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Charité-Buch: Entbindung im Gemüsekeller

Nur langsam wuchs die Charité vom Armenhaus zur echten Klinik. Das zeigt ein lesenswertes Buch über 250 Jahre ihrer Geschichte.

Am Opferstock mussten alle vorbei, er stand direkt am Eingang des Gebäudes. Denn am 14. Januar 1727 hatte Friedrich Wilhelm I., der Soldatenkönig, an den Rand eines Bittbriefs der Verwaltung um Steuererlass für die nötigen Lebensmittel den berühmten Satz notiert: „Es soll das Haus die Charité heißen.“

Barmherzigkeit also. Die sollte sie an Hilfesuchenden üben, aber Barmherzigkeit – in Form von Almosen, Spenden und Sponsorengeld – hatte die Charité stets auch selber nötig; seit ihren Anfängen als zwar königliches, aber kümmerliches Asyl für die Ärmsten der Armen bis zum heutigen schuldenbeladenen Großklinikum. Vielleicht lässt sich aus der Vergangenheit lernen. Zu den verschiedenen, meist spärlich fließenden Einnahmequellen der Charité gehörte auch eine ergiebige: Sie bekam die hinterzogenen Beträge der ertappten Steuersünder.

Armut durch Unterfinanzierung zieht sich als roter Faden durch die Historie dieser einmaligen Institution, die in dem lesenswerten Buch „Die Charité – Geschichte(n) eines Krankenhauses“ beschrieben ist.

Die Autoren, meist aus dem Charité-Institut für Geschichte der Medizin oder seinem Umkreis, schildern fundiert und doch lebendig, wie die Charité aus einer 1710 errichteten, zum Glück aber nie gebrauchten Pest-Quarantänestation vor den Toren Berlins entstand. Und wie das Haus dann als Asyl diente, für Obdachlose, Alte und Gebrechliche, für Waisen und verlassene ledige Schwangere (die zum Entbinden in den Gemüsekeller mussten) und auch für geschlechtskranke Prostituierte.

Die Kranken waren zunächst in der Minderheit, erfährt man aus dem Buch. Als Krankenhaus, sogar Lehrkrankenhaus, konnte man einen Teil der Charité nur deshalb bezeichnen, weil der König 1726 anordnete, neben dem Asyl auch ein „Lazareth“ für kranke Soldaten und arme kranke Zivilisten einzurichten, als praktische Lehrstätte für Militärchirurgen.

Wieder ein roter Faden durch die Charité-Geschichte: die medizinische Lehre, die ihr ebenso früh als Aufgabe gestellt wird wie die Krankenversorgung. Die Lehre trat erst zurück, als im Laufe des 19. Jahrhunderts wissenschaftliche Spitzenleistungen die Charité zur berühmten Forschungsstätte machten. Aber noch lange nicht zum Universitätsklinikum.

Mit diesem verbreiteten Irrtum räumt das Buch energisch auf. Als 1810 die Berliner Universität gegründet wurde, wollte sie nichts zu tun haben mit dieser Wohltätigkeitseinrichtung und „Kaserne“, in der die Armendirektion und das Kriegsministerium regierten. Sie gründete ihre eigene Medizinische Fakultät.

Nach 1880 wurden die veralteten kleinen Unikliniken durch einen großen Neubau in der Ziegelstraße ersetzt. Erst nach und nach eroberte die Fakultät die Charité, die mit Gründung eigener Spezialkliniken und Institute in die Ära ihres wissenschaftlichen Weltruhms eintrat.

Als erste der Unikliniken zog 1828 die Medizinische Klinik aufs Gelände der Charité, als letzte die Chirurgische Klinik, die noch bis Ende des 2. Weltkriegs in der Ziegelstraße blieb. Endgültig wurden Charité und Medizinische Fakultät erst 1950 vereinigt, auf Befehl der sowjetischen Militäradministration.

Das Buch ist zum Glück keine lobhudelnde Festschrift zum Jubiläumsjahr, sondern nimmt den Lesern auch Illusionen. So haben zum Beispiel viele medizinische Koryphäen, deren Namen man oft mit der Charité verbindet, wenig mit ihr zu tun, etwa Robert Koch, Emil Behring oder Paul Ehrlich. Auch berühmte Kliniker wie der Augenarzt Albrecht Graefe, der Chirurg Bernhard von Langenbeck und der Internist Ernst von Bergmann gehörten nicht zur Charité, sondern zur Medizinischen Fakultät.

Leider endet die Geschichte in dem Buch abrupt mit dem Mauerbau im August 1961. Von den 300 Jahren Charité fehlt ausgerechnet das letzte halbe Jahrhundert.

Johanna Bleker und Volker Hess (Hrsg.): Die Charité – Geschichte(n) eines Krankenhauses.

Akademie Verlag, Berlin 2010, 299 Seiten, 69,80 Euro.

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