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Eine junge Frau sitzt in einer Bibliothek und arbeitet am Laptop.

© Mike Wolff

Debatte um die Geisteswissenschaften: Wie wissenschaftlich ist die Literaturwissenschaft?

Sie edieren Texte, kommentieren und interpretieren. Eine illustre Germanisten-Runde in Berlin befand jetzt, schon das zeichne ihr Fach als wahre Wissenschaft aus.

Helle Aufregung: Wissenschaftler haben erstmals die von Albert Einstein nur theoretisch beschriebenen Gravitationswellen direkt beobachtet. Heureka! Als Literaturwissenschaftlerin beäugt man den Trubel ein bisschen skeptisch. So eine tolle Romananalyse kann man gar nicht schreiben, dass man damit auf die Seite eins einer Zeitung geriete. Naja, entgegnet der Forscher im weißen Kittel, derweil es im Reagenzglas anschaulich blubbert, ist das überhaupt richtige Wissenschaft, was ihr da macht – Bücher interpretieren?

Antworten suchte jetzt ein illustres Germanistengrüppchen. Das Format: Wie immer. Podiumsdiskussion. Der Ort: Kreuzberger Hinterhofschick. Eingeladen hatte die Indiana University, die in Berlin vor Kurzem ihren europäischen Ableger eröffnete. Die Gäste: Peter-André Alt (Präsident der Freien Universität), Eva Geulen (Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung), Ethel Matala de Mazza (Humboldt-Universität), Jutta Müller-Tamm (FU).

"Alles was wir tun, kann gelernt und gelehrt werden"

Die Leitfrage, worin eigentlich die „Wissenschaft der Literaturwissenschaft“ bestehe, zwang zum Konsens. Ist doch alles handfest, was wir machen, sagte Alt: Texte edieren, kommentieren, interpretieren. Literaturgeschichte untersuchen, Erzählperspektiven typologisieren. All das ergebe ein „verbindliches Propädeutikum“. Die Selbstreflexion, „Ethos“ des Faches, ermögliche es außerdem, das eigene methodische Vorgehen zu hinterfragen. Das betonte auch Geulen: Die Aufmerksamkeit für Texte und stichhaltige Argumente sei „eine Sache der Einübung. Alles, was wir tun, kann gelehrt und gelernt werden“. Die Quasi-Provokation von Alt, der fand, man solle die positivistischen Tendenzen des Faches nicht immer verleugnen, verpuffte etwas. Ein Positivismus, der à la 19. Jahrhundert wissenschaftliche Erkenntnisse in seinen kulturellen Trägern (Archivfunde!) materialisiert sehen will, ist einfach nicht mehr en vogue.

Die Kakaphonie der Meinungen ist kein Gegenbeweis

Allerdings wird die Wissenschaftlichkeit der Disziplin gerade deshalb gern infrage gestellt, weil ein modischer Methodenpluralismus herrsche. Wie soll man bei solch intellektueller Promiskuität zu validen Ergebnissen kommen? Ein Missverständnis, fand Matala de Mazza. Die „Kakophonie der Meinungen“ sei kein Beweis gegen, sondern für die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit: „Es gibt keine homogene Richtigkeit der Dinge. Es geht in unserem Fach um vieles, und dieses Viele kann nicht intellektuell monopolisiert werden.“ Im Übrigen, warf Geulen ein, solle man bloß nicht denken, in den Naturwissenschaften sei das anders: „Auch der Bienenforscher hat seine Idiosynkrasien.“

Was bewirkt der eigene Schreibstil der Interpreten?

Alle Forschungsfragen seien geprägt von „Denkstilen“, wie der Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck das genannt hat. Eine echte Herausforderung sei deswegen die Gegenwartsliteratur, sagte Müller-Tamm. Sie sei näher an uns dran als kanonisierte Autoren. „Verhindert oder ermöglicht der Präsenzcharakter dieser Literatur unsere Erkenntnis?“ In der Frage, ob die Literaturwissenschaftlerin selbst – ihr Erkenntnishorizont, ihr Schreibstil – eigentlich von ihrem untersuchten Gegenstand zu trennen sei, verhakte sich das Podium ein wenig. Ist Forschung noch reproduzierbar, wenn die Argumentation eines literaturwissenschaftlichen Textes mit seiner ästhetisch reizvollen Stilistik verschmilzt? Man schloss dann wieder auf die nötige Selbstreflexion zurück. „Wir müssen plausibel machen, welche Begriffe uns richtig erscheinen“, sagte Matala de Mazza. Alt fand, die Individualität des Stils sei auch Teil der „habituellen Positionierung“ im Forschungsfeld und komme in allen Fächern vor.

Mit auf dem Podium saß eine Handvoll Gewährsmänner: Kant, Hegel, Dilthey, Blumenberg, Szondi. Dass die Literaturwissenschaft auf Selbstbefragungsdiskurse mit Historisierung reagiert, ist freilich alles andere als unwissenschaftlich. Sondern nur eine andere Form der Relativitätstheorie.

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