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Damals noch Hausherr. Volkmar Sigusch 2004 in seinem Institut an der Universität Frankfurt am Main. Zwei Jahre später begann dessen Abwicklung.

© Gaby Gerster/laif

Wissen: Der Anti-Psychiater

Zum 70. Geburtstag des Frankfurter Sexualwissenschaftlers Volkmar Sigusch

Im November 1929, mitten in der Weltwirtschaftskrise, erschien in der elitär-jungkonservativen Monatszeitschrift „Die Tat“ eine Sammelrezension zum Thema Sexualität. Es geht um Geburtenkontrolle und befriedigende Sexualtechniken, verhandelt werden aber auch Bücher, die beklagen, dass „volkswirtschaftlich zu wenig Menschen“ verfügbar seien, die Oberklassen zum Nachteil der Durchschnittsintelligenz zu wenig Nachwuchs zeugten und die Erneuerung des Liebeslebens den Weg einer neuen Askese nehme.

Manches von dem, was in der Weimarer Republik um den Terminus „Geschlechtsnot der Gegenwart“ kreiste, mutet heute bemerkenswert aktuell an. Viele der referierten Autoren, Hendrik van der Velde und der Sozialmediziner Max Marcuse zum Beispiel, aber auch Margret Sanger und Rosa Mayreder, finden sich in dem von Volkmar Sigusch und Günter Grau herausgegebenen monumentalen „Personenlexikon der Sexualforschung“ wieder, das den Vertretern des von der etablierten Medizin verachteten „jüdischen Schmuddelfaches“ ein spätes Andenken setzt. Als die Nazis am 6. Mai 1933 das berühmte sexualwissenschaftliche Institut Magnus Hirschfelds zerstörten und die Bibliothek einen Tag später auf dem Berliner Opernplatz verbrannten, konnten sie auch auf Billigung des gebildeten Publikums rechnen.

Um etwas von der heutigen Situation der Sexualwissenschaft zu verstehen, muss man sich dieses institutionell zersplitterte, theoretisch zerklüftete und politisch polarisierte Feld aus „linken“ Eugenikern und „rechten“ Bevölkerungsdemagogen, Sozialreformern und „reinen“ Wissenschaftlern, ins Gedächtnis rufen. Zwar fand sich um 1950 wieder eine Fachgesellschaft zusammen und wurde in Hamburg ein Institut für Sexualwissenschaft gegründet; zwar begann ab 1973 mit dem von Volkmar Sigusch geleiteten Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft ein akademischer Leuchtturm aufrüttelnde Morsezeichen in die Welt zu senden. Und nach der Wende schien sich das Fach mit der in Berlin wiederbelebten Sexualwissenschaft in die östlichen Breitengrade auszudehnen. Doch als mit Siguschs Emeritierung 2006 das Frankfurter Institut geschlossen werden sollte, war der Einfluss des Faches zu gering, um seine sukzessive Abwicklung aufzuhalten. Am morgigen Freitag wird Volkmar Sigusch 70 Jahre alt.

Ein Domizil an der Frankfurter Uni hat er nicht mehr. Die unselbstständige Professur, mit der dem Prostest der Stachel genommen werden sollte, ist bis heute nicht ausgeschrieben, die einzigartige Bibliothek nicht mehr zugänglich und die bundesweit erste kassenärztlich zugelassene sexualtherapeutische Ambulanz praktisch am Ende. „Ich habe mich mein ganzes Arbeitsleben dafür eingesetzt, sexuelle Probleme aus dem Zugriff der Psychiatrie freizukämpfen“, sagt Sigusch. Dass ausgerechnet die Disziplin, die schon vor über hundert Jahren sexuelle Konflikte und Störungen pathologisierte und Patienten in Anstalten verwies, sein Arbeitsfeld übernehmen soll, empfindet er als kränkend und bedrohlich. Wer soll sich künftig um Patienten kümmern, die ihre Sexsucht im Internet ausleben, wenn es keine entsprechend ausgebildeten Ärzte mehr gibt? Wer forscht über „Objektophilie“? Wer kann Verlässliches über den neuen Trend zur Asexualität unter Jugendlichen sagen, wenn die langen Verlaufswellen sexuellen Verhaltens aus dem Blick geraten?

Wir sitzen in einem Café in Sachsenhausen. Volkmar Sigusch ist ein bekannter Mann in Frankfurt, und wir müssen den Tisch räumen, um ungestört zu sprechen, über das bittere Ende seines Instituts und wie es gekommen ist, dass er solche Affekte gegen die Psychiatrie entwickelt hat. Denn als Volkmar Sigusch als 21-Jähriger nach Frankfurt kam, begann er seine Karriere in diesem Fach. Zurückgelassen hatte er die DDR, die es nicht litt, dass er die Frühschriften von Marx studierte und das West-Kino erkundete. Im Osten der Knast, im Westen das Auffanglager, dann das Studium in Frankfurt und der Krach mit dem Doktorvater. Irgendwann landete Sigusch bei Hans Bürger-Prinz und Hans Giese in Hamburg. Beide waren involviert in den Nationalsozialismus, trugen aber auch viel dazu bei, dass die Sexualwissenschaft im Nachkriegsdeutschland wiederbelebt wurde.

Es waren die glücklichen Zeitumstände, dass Sigusch – weltweit erstmals in dieser Disziplin – 1972 habilitiert wurde, „eigentlich viel zu jung, die wollten mich in der Medizin gar nicht haben“. Nach Gieses Tod wurde ihm angeboten, in Frankfurt ein neues Institut aufzubauen. Obwohl Sigusch sich nie als Aktivist der 68er-Bewegung verstanden hat und dem von ihr inthronisierten „König Sex“ den Tribut verweigerte, zog er die Repräsentanten der „Sexfront“ an seine Seite: Günter Amendt, den ehemaligen SDS-Vorsitzenden Reimut Reiche und Martin Dannecker, der die Schwulenbewegung forcierte.

Wenn Sigusch auf diese Zeit zu sprechen kommt, „den Höhepunkt meiner Karriere“, verliert er sich in Anekdoten, lacht viel. „1970 saßen wir in den Hinterzimmern mit sozialdemokratischen Ministern herum und haben ausgemauschelt, wie wir die CDU austricksen können.“ Zusammen mit Eberhard Schorsch und Gunter Schmidt gehörte er zu den Sachverständigen der 1970 auf den Weg gebrachten Sexualstrafrechtsreform, in deren Folge auch der so genannte Schwulenparagraph 175 liberalisiert wurde.

In den siebziger Jahren positionierten sich Sigusch und seine Mitstreiter gegen die etablierte Medizin und insbesondere gegen die Psychochirurgie. „Die Medizingeschichte“, lautet die erste von sieben provokanten Thesen zum Verhältnis von „Medizin und Sexualität“ (1970), „ist eine Geschichte des Kampfes gegen Sexualität“. Von einer Sexualmedizin, für die Sigusch später Pate stehen würde, konnte noch keine Rede sein. Ähnlich kompromisslos führte er den Kampf gegen die Psychochirurgie, die versuchte, psychische oder sexuelle Verhaltensbereiche zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ zu beeinflussen. „Suchten, Transsexualität und Terrorismus“ lautete der bezeichnende Titel eines Kongresses 1977.

Dass Sigusch und sein Institut selbst auch zur „Medikalisierung“ beitrugen, indem sie die Behandlung transsexueller Patienten aus therapeutischer Hilflosigkeit letztlich der Chirurgie überantworteten, hat er in einem sehr offenen Rechenschaftsbericht („Geschlechtswechsel“, 1992) niedergelegt. Die „blinden Flecken“, die Freud in Bezug auf Frauen aufwies, Max Marcuse im Hinblick auf Homosexualität oder Hirschfeld auf Heterosexualität, gehören für ihn untrennbar zur Disziplin, das hat er vielleicht von Norbert Elias gelernt.

„Das Fach ist durch und durch subjektiv, man muss den eigenen Standort eingestehen“, sagt Sigusch. „Als ich in Gieses Hamburger Ambulanz hineingeworfen wurde, war ich mit zwei Dingen konfrontiert, die mir nicht geheuer waren: Transsexualität und Pädophilie. Meine ,blinden Flecken‘ erkennt man wohl daran, womit ich mich theoretisch wenig oder nicht befasst habe.“ Dazu gehört das Thema Pädophilie und Missbrauch, über das er sich erst in jüngster Zeit geäußert hat.

Den Trend, Affekte, Ängste und Schuld apparativ durchleuchten und verstehen zu wollen, hält er für eine ebenso fatale Fehlentwicklung wie den genetischen Determinismus (das „Homo- Gen“), der neue sexuelle „Wesenheiten“ konstruiert oder die pharmakologisch unterstützte sexuelle Selbstoptimierung. Diese „somatoformen Fantasmen“ seien zwar entlastend, doch sie suggerierten, dass das Sexuelle gebändigt und als gute Substanz angeeignet werden könnte. Das Sexuelle aber, behauptet Sigusch, sei eben nicht ohne Rest rationalisierbar und in jener Paradoxie gefangen, die auch für sexuelle Ausdrucksformen gelte: Je mehr es domestiziert wird, desto mehr entzieht es sich in Form der Perversion, je befreiter die Lust, desto verdinglichter kehrt sie in ihrer kommerziellen Zurichtung wieder.

In dieser Hinsicht ist Sigusch ein „unverbesserlicher Adornit“, und seine marxistischen Wurzeln hat er nie verleugnet. Nach seinem DDR-Erbe befragt, bekennt er, er sei dankbar, dort gelernt zu haben, was körperliche Arbeit bedeutet. Wie er so mit seinem karierten Hemd vor einem sitzt, kann man sich den gelernten Traktorist auf dem Feld im Umland von Bad Freienwalde, wo er herstammt, vorstellen, wie er die Ernte einbringt. In seinem Fall ist es nun eine überaus reiche wissenschaftliche Ernte, die er zu seinem 70. Geburtstag in der ehemaligen Gärtnerei, in der er heute wohnt, unterzubringen hat.

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