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Wissen: Der verkannte Humboldt

Für Preußen war die Berliner Universitätsgründung von 1810 ein patriotischer Mythos

Heute gilt Wilhelm von Humboldt weltweit als der geistige Vater der modernen Universität. Die Einheit von Forschung und Lehre und die Bildung durch Wissenschaft – diese im Geist des deutschen Idealismus formulierten Grundsätze aus dem Jahr 1809 – bildeten Fundamente der Neugründung der Berliner Universität von 1810. Die großen amerikanischen Forschungsuniversitäten der Ivy League haben Humboldts Ideen übernommen und damit zu ihrem weltweiten Siegeszug beigetragen.

Umso erstaunlicher ist es, dass während des ganzen 19. Jahrhunderts die Berufung auf Humboldts Modell für die deutsche Universität unüblich war. In Reden, die einst an deutschen Universitäten bei der feierlichen Übergabe des Rektorenamtes gehalten wurden, kamen die Ideale des Reformers schlicht nicht vor, fanden der Tübinger Historiker Dieter Langewiesche und der Berliner Historiker Rüdiger von Bruch bei einer Untersuchung im Auftrag der Historischen Kommission heraus.

In Berlin wurde die Gründung der Universität im Jahr 1810 als Erinnerung an einen heroischen Akt gefeiert, sagte Langewiesche jetzt bei einem Festkolloquium zum 65. Geburtstag von Bruchs. Das von Napoleon geschlagene, in seiner Ausdehnung dezimierte Preußen fand die Kraft, in der Zeit seiner größten Demütigung und Schwäche eine Universität zu gründen. Die Gründung wurde zur Mission Preußens – und mit dem Herrscherhaus der Hohenzollern in eine sinngebende Verbindung gebracht. Den Sieg über die französische Armee, nicht nur in den Befreiungskriegen gegen Napoleon, sondern auch 1871 nach der Schlacht von Sedan, feierte man auch als Sieg der preußischen Universität. Andere Rektoren hatten länderspezifische Bezüge zur Geschichte ihrer Universitäten, die insbesondere mit den Traditionen und ihrem ehrwürdigen Alter zu tun hatten. Heidelberg, Leipzig, Freiburg und Tübingen stehen für diese Linie.

In Deutschland setzte eine Berufung auf Humboldts Universitätsidee erst zögerlich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein. Erst nach 1968 hatte sie sich als Vorbild durchgesetzt. Zuerst auf Humboldt besonnen hat sich allerdings die Schweiz. Die berühmte Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich ging voran, es folgte die Universität in Lausanne. Heute gilt die Trias von Forschung, Lehre und Studium und damit die Bildung durch Wissenschaft als Maßstab, an dem sich auch die Universitätsreformen der Gegenwart messen lassen müssen.

Winfried Schulze, Historiker aus München, war von 1998 bis 2001 Vorsitzender des Wissenschaftsrats – in einer Zeit, in der über die großen Reformen an den Universitäten nicht nur geredet, sondern deren Umsetzung eingeleitet wurde. Die Grundidee, dass 40 Prozent eines Altersjahrgangs nicht mit derselben Studienorganisation gebildet werden können wie fünf Prozent eines Jahrgangs, seien aber zu spät offizielles Regierungsprogramm geworden, kritisierte Schulze. Nach der undurchdachten Öffnung der deutschen Hochschulen für die geburtenstarken Jahrgänge im Jahr 1977 nahm die Zahl der Studenten um 120 Prozent, das wissenschaftliche Personal für deren Betreuung jedoch nur um 46 Prozent zu. Das nannte man die „Untertunnelung des Studentenberges“ mit der Folge einer seitdem anhaltenden Unterfinanzierung der Hochschulen.

Die Entlassung der Universitäten in die Autonomie rechtfertigte Schulze. Wenn der Staat sich aus der Detailsteuerung zurückziehe und nur noch in Zielvereinbarungen einige Rahmenvorgaben für die Universitätspolitik mache, sei es nur logisch, dass als Folge dieses Rückzugs die Hochschulen von der Gesellschaft kontrolliert werden müssten. Dass Hochschulräte mit Vertretern der Wirtschaft, der Wissenschaft und herausragenden Persönlichkeiten besetzt werden, ist für den ehemaligen Vorsitzenden des Wissenschaftsrats eine logische Konsequenz. Unter konservativen Professoren ist diese Neuorganisation nach wie vor höchst umstritten. Eine Unterwerfung der Hochschulen unter einen Ökonomisierungszwang bestreitet Winfried Schulze. Vorbild seien die Boards of Governance an den bedeutenden amerikanischen Privatuniversitäten gewesen.

Mit dem Festkolloquium wurde der Wissenschaftshistoriker Rüdiger von Bruch gewürdigt, dessen Wirkungskreis weit über die Humboldt-Universität hinausgeht. So wirkte er an der Georgetown University in Amerika und war von 1999 bis 2001 Präsident der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte. Das 200-jährige Jubiläum, das die HU in diesem und im kommenden Jahr feiert, hat von Bruch mit einer zweibändigen Edition über die Berliner Universität in der NS-Zeit vorbereitet. Uwe Schlicht

Uwe Schlicht

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