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Deutsche Soldaten rasten im Jahr 1917 in Russland vor einem brennenden Dorf.

© bpk / Gustav Berger

Deutsche Geografen als Kriegstreiber im Ersten Weltkrieg: Uferloses Sehnen nach Macht

Im Ersten Weltkrieg betätigten sich auch deutsche Geografen als Kriegstreiber, darunter der Rektor der Berliner Universität, Albrecht Penck. Ihm und seinen Kollegen ging es um "notwendigen" Lebensraum im Osten.

„Ich bin stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin.“ – „Haben Sie Beziehungen zur Armee?“ – „Nicht die geringsten.“ – „Fertigt die Gesellschaft nicht Karten für den Generalstab?“ – „Unser Generalstab macht alle Karten, die er benötigt, selbst.“ So ging es nach dem Bericht Albrecht Pencks, des weltberühmten Eiszeitforschers und Berliner Geografieprofessors, knapp eine Stunde weiter. Von einer Tagung in Australien kommend, war er zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 in London festgehalten worden. Fotografie für Fotografie, die er im Gepäck hatte, wurde ihm vom Chef der Londoner Kriminalpolizei in Scotland Yard vorgehalten.

Warum darauf Brücken zu sehen seien, ein Eisenbahnabschnitt, das Meer? Schließlich war der Beamte überzeugt, einen rein wissenschaftlichen Reisenden vor sich zu haben, keinen Spion. Dennoch musste Penck in London bleiben, denn deutsche Professoren galten als „die entschiedensten Vorkämpfer für den Krieg und unterstützten die Regierung durch Zeitungsartikel und Erklärungen“. Erst Ende 1914 bekam Penck schließlich das „Permit“ zur Heimreise.

Penck und Kollegen wollten Deutschland als Weltmacht etabliert sehen

Penck selber beschrieb sich fernab aller Politik, nur der Wissenschaft lebend. Dabei gehörte er zur Mehrzahl seiner Kollegen, die Deutschland endgültig als „Weltmacht“ etabliert sehen wollten. Es ärgerte ihn, dass über die Kriegsziele nicht laut gesprochen werden durfte, wie er seinem Freund und Kollegen Joseph Partsch am Neujahrstag 1916 schrieb. Leider besäßen die „leitenden Stellen“ überhaupt keine Vorstellung von der „zukünftigen Gestaltung Europas“. Unverkennbar wollte er von der Politik gefragt werden, was zu tun sei, um einem wachsenden Volk wie dem deutschen den nötigen „Raum“ zu verschaffen.

Pencks besonderes Augenmerk galt Russland. Zwar werde Deutschland üblicherweise in der Mitte Europas platziert, tatsächlich aber liege Russland auf dem Flächenmittelpunkt. Der Krieg, hoffte Penck, würde Russland auf das hintere Europa zurückdrängen, auf eine Linie vom Weißen Meer über den Peipussee bis zur Dnjepr-Mündung. Davor sollten Satellitenstaaten mit eigener Verwaltung, aber unter deutscher Beeinflussung entstehen.

Das sei „kein uferloses Sehnen nach Macht, kein imperialistisches Streben“, sondern „das Mindestmaß dessen, was wir für die Zukunft brauchen“, erklärte Penck in seiner Antrittsrede als Rektor der Berliner Universität im Herbst 1917. Am Ende schlussfolgert er, „dass wir vom eroberten Land behalten, was notwendig ist als Lebensraum für unser deutsches Volk, dass wir einen Kolonialbesitz erhalten, groß und reich genug, um uns mit den unentbehrlich gewordenen Rohstoffen der Tropen zu versehen“.

"Es gilt um unsere Zukunft"

In seiner Neujahrsbotschaft für 1918 stellte Penck die Studenten an den Fronten dann vor eine unerbittliche Alternative: „Es gilt um unsere Zukunft: ob wir ein leitendes Volk bleiben wollen oder uns ducken unter das Angelsachsentum mit seinen trügerischen Phrasen von Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht der Völker.“ Anfang 1918 schien es aus Pencks Sicht um einen endgültigen deutschen Sieg nicht schlecht zu stehen. Im Innern des Zarenreiches würden die „natürlichen Nähte“ reißen. Im Vorfeld eines zurückgedrängten Russlands könnten neue Staaten entstehen, darunter die Ukraine, deren geografische Existenzberechtigung er bestätigte. Das „natürliche Polen“ seines Schülers Eugeniusz Romer, das über die russischen Weichseldepartements hinausging, dagegen lehnte Penck ab. Er zeigte diesen sogar beim deutschen Generalstab wegen Landesverrats an, was für Romer aber folgenlos blieb.

Inspiriert wurden Pencks politisch-geografische Überlegungen unübersehbar durch Friedrich Ratzels „Politische Geographie“. Der 1904 verstorbene Leipziger Geograf war wissenschaftlich umstritten, bei den Studierenden jedoch höchst beliebt. Als Multiplikatoren trugen sie seine Ideen weiter. Der Weltkrieg schien ihnen als Paradigma für die Richtigkeit der Gedankenwelt ihres Meisters. Besonders brisant war Ratzels „Gesetz der wachsenden (politischen) Räume“. Er verknüpfte es mit Darwins „Kampf ums Dasein“, der primär ein „Kampf um den Raum“ sei. Kriege waren für Ratzel das „rasch verlaufende Experiment“, das über die Zukunft der Völker und ihre Rolle in der Geschichte entschied.

"Naturnotwendige Wachstumserscheinungen gesunder Staaten"

Einflussreich war auch der Schulgeograf Felix Lampe. Kriege seien „naturnotwendige Wachstumserscheinungen gesunder Staaten“, ihr Ziel sei „Lebensraum“. Als Bild wählte er den Ausbruch eines Vulkans. Die Völker würden auf dem „Rücken der Erde“ anschwellen wie die Gasspannung in einer Magmakammer kurz vor dem flammenden Feuerspiel.

Deutschland wurde von den kriegsbegeisterten Geografen zum Opfer seiner Landesnatur stilisiert. Seine Mittellage und die fehlenden Naturgrenzen im Westen und Osten zwängen zur Expansion. Penck entwickelte daraus seine 1925 publizierte Theorie des „Volks- und Kulturbodens“. Sie sollte sich – mit Blick auf den Nationalsozialismus – als ungeheuer wirkmächtig erweisen. Gemeint war ein ethnisierter Boden, der sich dem „geschulten Auge“ des Geografen durch Sauberkeit und Ordnung als deutscher Boden zeigte. Darin liege der „Leistungswert“ des deutschen Volkes, an den kein Diktatfrieden rühren könne. Über Jahrtausende währender Kulturarbeit hätten die Germanen den „Osten“ erschlossen, wozu die Slawen unfähig gewesen seien.

Ob vom Volk oder vom Boden her, später von „Blut und Boden“, gedacht: Das geografisch-geopolitische Weltbild, das Verantwortlichkeit durch vorgebliche Notwendigkeit ersetzte, ließ den Ersten Weltkrieg nur als Durchgangsstadium für einen zweiten Anlauf erscheinen, Europa unter deutscher Führung „neu zu ordnen“.

Der Autor ist emeritierter Professor am Geographischen Institut der Humboldt-Universität.

Hans-Dietrich Schultz

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