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Vereint im Fußballfieber. Deutsche und türkischstämmige Fans beim Public Viewing 2008 vor dem Brandenburger Tor.

© IMAGO

Die bunte Gesellschaft: "Monokulti ist tot"

Vor 22 Jahren prägte der Politologe Claus Leggewie in einem Buch den Begriff "Multikulti". Nun stellt er eine Neuauflage seines Klassikers vor – und ist optimistischer als damals. Gerade eine bunte Gesellschaft habe Mittel, trotz Verteilungskämpfen friedlich zu werden.

Totenscheine ohne Ende: „Der Multikulturalismus ist gescheitert“, sagt Frankreichs Präsident Sarkozy. „Die Doktrin des Multikulturalismus ist gescheitert“, sagt Englands Premier Cameron. Sogar der Vatikan, als Zentrum der katholischen Kirche eigentlich das wahre Amt für Multikulturelles, predigt inzwischen den Glauben an viele „starke kulturelle Identitäten“ statt der multiplen. Und die Bundeskanzlerin setzte im Herbst 2010 noch eins drauf: „Gescheitert, total gescheitert“ sei Multikulti.

Quatsch, findet dagegen Claus Leggewie. Der vielseitig interessierte und engagierte Politikwissenschaftler, früher Professor in Gießen, seit fünf Jahren Leiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen und Berater der Bundesregierung in deren „Wissenschaftlichem Beirat Globale Umweltveränderungen“, hat den Begriff vor mehr als zwei Jahrzehnten nach Deutschland verpflanzt. Er ließ sich durch das Album „Multikulti“ des Jazztrompeters Don Cherry und seiner Band inspirieren. Das Recht des „Importeurs“ (Leggewie) auf Widerspruch hat er sich jetzt genommen und den schmalen Band im kleinen Blumenkamp-Verlag gerade noch einmal aufgelegt, ergänzt um drei aktuelle Texte.

Warum? Es sei nicht nur der von der Jungen Union frenetisch beklatschte Auftritt der Kanzlerin 2010 gewesen und die vielen anderen Totenscheine, die dem Multikulturalismus inzwischen ausgestellt worden seien, sagt Leggewie, als er die Neuauflage jetzt im Berliner Projektzentrum der Essener Stiftung Mercator präsentierte. Den Ausschlag habe die Sarrazin-Debatte gegeben und „die pflaumenweiche Reaktion“ der politischen Öffentlichkeit.

Seither sind es der guten schlechten Gründe eher noch mehr geworden. Im Vorwort der neuen Auflage nennt Leggewie den Massenmord von Oslo im Sommer 2011, den der Mörder Breivik mit der Rettung des christlichen Europa vor dem Multikulturalismus begründete. Ihm und seinen Mistreitern habe bereits 1990 geschwant, dass Multikulti als Begriff wie Sache umstritten sein würde. „Wir hätten uns aber kaum vorstellen können, dass in der Verleugnung von Multi-Kulti Menschen sterben müssten“ – wie es schon kurze Zeit später auch in Deutschland in Anschlägen auf Asylbewerber und Migranten geschah. Kein Ende in Sicht: Die Aufdeckung der Morde der Zwickauer Neonazi-Zelle kam für die Drucklegung zu spät.

22 Jahre danach merkt man Teilen des Texts seine Zeitgebundenheit deutlich an: Die Auseinandersetzung um die halbherzige Novelle des Ausländerrechts liest man im Wissen um die rot-grüne Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 eher lustlos. Leggewie selbst sieht seine Sorgen um das Verhältnis von deutscher Einheit und deutscher Vielfalt heute als verflogen an. Die Wiedervereinigung habe die „Erfolgsgeschichte“ der deutschen Einwanderungsgesellschaft womöglich kurz abgeknickt, aber nicht auf Dauer beschädigt. Das Buch sei 1990 eher eine „Defizitanalyse“ gewesen, heute sähe er „überhaupt keinen Anlass“ mehr, von Scheitern zu sprechen. „Nicht Multikulti, sondern Monokulti ist tot.“ Die Einwanderungsgesellschaft sei Wirklichkeit, gerade Deutschland schaffe die große Aufgabe auch ziemlich gut. Und zu fragen, ob man für oder gegen Multikulturalismus ist, sei so unsinnig, als wolle man über den Sonnenaufgang am Morgen abstimmen.

Die Vielvölkerrepublik hat wenig Talent, Heimat zu werden. Eine Alternative gibt es aber nicht.

Die „Defizitanalyse“ Leggewies und seiner Mitstreiter nahm sich 1990 übrigens alle Lager vor, die Anti- wie die Pro-Multikulturalisten. Es sind die nach wie vor lesenswerten und aktuellen Seiten des Buchs: Den romantischen Freunden der Vielvölkerrepublik hält es entgegen, dass sie nicht den ewigen Frieden bringe: „Seit die Weltgesellschaft Wirklichkeit ist, häufen sich ethnische Spannungen und religiöser Furor.“ Und die multikulturelle Gesellschaft sei nicht einmal die zwangsläufig modernere, denn „die Völkerwanderung bringt einen neuen Schub Verbäuerlichung. Die Zahl der Viehhalter, Rechtgläubigen, Bodenbesitzer, Taschendiebe und Parteilosen in den Städten wächst. Statt der prognostizierten Entflechtung ,ruraler’ und ,urbaner’ Zonen schreitet vielmehr die ,Rurbanisierung’ zügig voran. Tribalismus ist keineswegs an sein Ende gekommen, sondern zu postkolonialer Blüte“, schreibt Leggewie. Die Vielvölkerrepublik habe wenig Talent, Heimat zu werden. Aber sie könne „ein halbwegs erträglicher Landstrich sein“.

Einen anderen Wohnort haben wir ohnehin nicht, wie er auch in der neuen Auflage betont. Mit Einwanderern oder ohne: Soziologen wüssten, dass Menschen sich ständig auf fremde Kulturen einstellen müssten, zwischen den Generationen, Geschlechtern, Individuen. Und aktuell werde „der Bestand an gemeinsamem Wissen“, das den Alltag bewältigen helfe, „für alle Gesellschaftsmitglieder zunehmend prekär“. „Die ,intercultural condition’ ist die ,conditio humana’ unserer Tage.“

Dabei hat, so Leggewies optimistische Botschaft einst wie jetzt, gerade eine bunte Gesellschaft Mittel, trotz Rückfällen ins Sippendenken modern und trotz Verteilungskämpfen friedlich zu werden – eben im Konflikt. Die turbulenten Moscheedebatten sind ihm ein Beispiel. „Jeder friedlich ausgetragene und glücklich ausgestandene Konflikt bringt die Gesellschaft insgesamt weiter.“

Die Analyse war vor 20 Jahren nüchtern und ist es auch in den angefügten neuen Teilen. Fragt sich also, wie der Titel „Multikulti“ vom „absoluten Schmusewort der Linken“ (Leggewie) zum Schimpfwort der Konservativen und Rechten werden konnte. Armin Laschet, bis zum Regierungswechsel 2010 christdemokratischer Integrationsminister von Nordrhein-Westfalen, erklärt es in Berlin mit dem Niedlichkeitsfaktor des Worts: Multikulti klinge nach „immerwährendem Straßenfest“, das habe gelegentlich bewusstem Missverstehen und seiner Karriere zum „Kampfbegriff“ Vorschub geleistet.

Das könnte auch der Neuauflage schaden, wie jeder Werbefachmann dem Autor hätte erklären können. Aber Leggewie ist’s sowieso wurscht: „Ich bin 68er. Wir haben immer verloren und trotzdem immer weitergemacht.“

- Claus Leggewie: MultiKulti: Spielregeln für die Vielvölkerrepublik. Überarbeitete Neuauflage. Blumenkamp Verlag, 2011. 230 Seiten, 19 Euro.

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