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Das Kreuz ist das Symbol, mit dem die meisten Historiker Europa identifizieren. Doch auch die Christen sind geteilt sind Protestanten und Katholiken.

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Die Geschichte Europas: Das "christliche Abendland" ist eine Fiktion

Im Mittelalter herrschte ein spannungsvolles Nebeneinander der Kulturen - und der drei großen Religionen. Wer die Geschichte Europas neu denken will, kann kaum von der kulturellen Einheit des Kontinents sprechen.

Was macht Europa aus? Immer wieder wird versucht, Europa eine historische Identität von Dauer zuzuschreiben und diese aus mittelalterlichen Anfängen abzuleiten. Erst vor kurzem orientierte ein deutscher Universitätshistoriker seine Geschichte Europas im Mittelalter an der angeblichen „Einheit des Abendlandes“, die auf einem christlichen Grundkonsens als kulturellem Fundament beruhe. Eine andere Mediävistin zog eine Linie von den „Ursprüngen Europas“ bis zur Gegenwart und schied Europa strikt vom Osten: „Europa – das war (…) die mittelalterliche Welt in Abgrenzung zu Byzanz und zum Islam.“ Besonders nachdrücklich hat der berühmteste aller lebenden Mittelalterhistoriker, der Franzose Jacques Le Goff, die These vertreten, dass Europa im Mittelalter „geboren“ worden sei. Das „mittelalterliche Erbe“ sei sogar „das wichtigste aller Vermächtnisse, die im Europa von heute und morgen ihre Wirkung entfalten“.

Doch dieses Bild kann heute keinen Bestand mehr haben. Nach Auflösung der eurasischen Supermacht im Osten und Abschwächung der Bindungen über den Atlantik nach Westen finden sich die Europäer in Einigungsprozessen zusammen, die nur durch Verständigung über gemeinsame Werte und Ordnungen Bestand haben können. Neben der Frage, ob dabei zusammenwachsen kann, was zusammen gehört, geht es darum, ob auch zusammenwachsen soll, was – nach der Meinung vieler – gar nicht zusammen passt.

Kräftefeld. Ein mittelalterliches Weltsystem des Handels entstand bereits zwischen 1250 und 1350, besagt eine neue These zur Globalisierungsgeschichte. Im Bild eine ptolemäische Weltkarte aus dem 15. Jahrhundert.
Kräftefeld. Ein mittelalterliches Weltsystem des Handels entstand bereits zwischen 1250 und 1350, besagt eine neue These zur Globalisierungsgeschichte. Im Bild eine ptolemäische Weltkarte aus dem 15. Jahrhundert.

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Europäisierung und Globalisierung unserer Welt scheinen sich dabei gleichzeitig zu vollziehen. Wo sich Netzwerke der Kommunikation und des Handels über den Globus spannen, treten staatlich-politische und geografische Einheiten in ihrer Bedeutung deshalb zurück. Auch das muss unser Bild vom Mittelalter wandeln. Man kann sogar von Krisen des Mittelalters im Bewusstsein unserer Geschichte sprechen.

Wer neben den bisher schon konstitutiven lateinischen Christen auch die anderen religiösen Gruppen auf dem Boden Europas ernst nimmt, dem löst sich die gewohnte kulturelle Einheit des Kontinents auf den Seiten seiner Manuskripte auf. Es scheint unmöglich zu werden, Aussagen über seine Identität zu machen. In diesem Sinne hat der französische Sozialwissenschaftler Edgar Morin erklärt, Europa zu denken bedeute, es als einen Komplex anzuerkennen, der „die größten Unterschiede in sich vereinigt, ohne sie zu vermengen“, und der „Gegensätze untrennbar miteinander verbindet“.

Freilich ist eine solche Geschichte eine Geschichte ohne Botschaft, und so fragt es sich, ob sie auf Dauer genügt. Europäische Geschichte unter eine Leitidee zu stellen, ist dann erlaubt, wenn stets präsent gehalten wird, dass jede subjektive Konstruktion nur eine Möglichkeit unter vielen anderen ist. In diesem Sinne habe ich in den letzten Jahren wiederholt die Auffassung vertreten, dass wir statt vom christlichen von einem monotheistischen Europa des Mittelalters sprechen sollten.

Keine der drei Religionen wurde in Europa ausgerottet - sie duldeten sich

Sind es wirklich nur die christlichen Gotteshäuser, die die Geschichte Europas prägten?
Sind es wirklich nur die christlichen Gotteshäuser, die die Geschichte Europas prägten?

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Das Mittelalter brachte die Abwendung vom antiken Polytheismus. Der Durchbruch des Monotheismus bedeutete mehr als alles andere die Geburt Europas im Mittelalter. Allerdings wurde Europa nicht nur von einer, sondern von drei monotheistischen Religionen geprägt. Unter diesen hatten sich Judentum und Christentum schon zur Römerzeit verbreitet, der Islam kam erst im 7./8. Jahrhundert hinzu.

Zuerst haben die Gläubigen des mosaischen Gesetzes in Europa eine Bleibe gesucht; in Rom bestand eine jüdische Siedlung schon vor Christi Geburt. Bald bildete in Europa dann das spanische Judentum ein erstes Zentrum ihrer Religion und Kultur, im dritten Jahrhundert sind auch in südfranzösischen Städten jüdische Niederlassungen nachgewiesen. Charakteristisch war für die Juden, dass sie ohne eigenen Staat stets verstreut als Minderheit unter Christen und Muslimen lebten.

Die Christianisierung Europas hat mit den Missionsreisen des Apostels Paulus eingesetzt; den Endpunkt markierte die Konversion Litauens 1386. Der ungeheuer lange Zeitraum der europäischen Missionsgeschichte, die niemals zur Vollendung kam, lässt allenthalben auf erhebliche Widerstände und ein durchaus wechselndes Engagement der christlichen Bischöfe und Glaubensboten schließen.

Als die Muslime im 8. Jahrhundert nach Europa vordrangen, hatten sie sich kaum mehr mit Polytheisten, sondern mit Christen und Juden auseinanderzusetzen. Im westlichen Europa glückte Arabern und Berbern die Vernichtung des christlichen Reiches der Westgoten und die Einnahme fast ganz Spaniens. Während des späten Mittelalters gewann der Islam bedeutende Länder im Südosten. Mit dem Fall Konstantinopels 1453 trat das Reich der Osmanen endgültig an die Stelle des christlichen Imperiums. Obwohl die Restherrschaft in Granada 1492 fiel, behauptete sich der Islam in Europa bis zum Ende des Mittelalters und darüber hinaus.

Das religiöse Bekenntnis, das der Eingottglaube verlangte, war eine schier unerschöpfliche Quelle von Konflikten; das gilt auch dort, wo Christen, Juden und Muslime nicht zusammenlebten oder aufeinander stießen. Denn auch innerhalb der drei Religionen musste stets um den rechten Glauben gerungen werden. Schismen und Häresien haben deshalb die Geschichte der monotheistischen Religionen von Anfang an begleitet.

Nicht zu übersehen ist aber, dass keine der drei Religionen in Europa ausgerottet wurde und dass sie sich nach rechtlichen Regelungen und in praktischen Kompromissen gegenseitig duldeten. Viel entschiedener gingen alle drei gegen ihre Ketzer und Apostaten vor. In der ungelösten Spannung zwischen Einheitspostulat und nie vollständig integrierbaren Abweichungen hat Europa im Mittelalter, wie man sagen könnte, zu seiner unverwechselbaren historischen Gestalt gefunden.

Vor allem die unklaren Grenzen im Osten sind geschichtlich ein Problem

Die Schwierigkeiten mit einer Gesamtgeschichte Europas rühren vor allem von der Unklarheit der Grenze im Osten her. Noch heute stellt die Frage, ob Russland und die Türkei zu Europa gehören, und zwar geografisch, ökonomisch, politisch und kulturell, ein ungelöstes Problem dar. Entgrenzung der Räume ist aber gerade das Kennzeichen von Globalisierung. So wie in deren Horizont die Menschen in Deutschland und Europa ihren Platz neu bestimmen müssen, bietet sie auch für die Geschichte des Mittelalters neue Koordinaten an.

Auf der Basis der Handelsgeschichte ist die bisher mutigste These zur Globalgeschichte des Mittelalters entwickelt worden. Die amerikanische Soziologin und Historikerin Janet Abu-Lughod hat nachzuweisen versucht, dass es schon zwischen 1250 und 1350 ein Weltsystem des Handels und des kulturellen Austauschs gegeben habe, das sich zwischen den beiden Extremen Nordwesteuropa und China erstreckte. Sie widersprach damit der Annahme, ein solches Weltsystem sei erst im 16. Jahrhundert, im Zeitalter der Entdeckungen, entstanden.

Man darf sich dabei nicht vorstellen, dass das mittelalterliche Weltsystem alle Menschen und Räume vereint hat, wie wir dies von der gegenwärtigen Globalisierung zu wissen glauben. Es bestand vielmehr aus einem inselartigen Meer bedeutender Städte, das Netzwerk war noch zart entwickelt. Bemerkenswert war, dass zwischen Ost und West ein Gleichgewicht herrschte, das jederzeit zugunsten eines jeden Kontrahenten hätte umschlagen können. Vom Weltsystem des Mittelalters hätte also auch eine Dominanz Chinas ausgehen können, die dem Aufstieg Europas in der Neuzeit im Wege gestanden hätte.

Auch wenn die globalhistorische Mittelalterforschung noch ganz am Anfang steht, zeichnen sich doch schon gravierende Änderungen unseres Geschichtsbildes ab. Europa rückt in dieser Perspektive an den Rand der Ökumene. Mit dem Rücken zum Atlantik, den seine Seefahrer nur zögernd zu erschließen wagten, schaute es nach Osten, wo fast immer Muslime beziehungsweise Asiaten die Fernbeziehungen kontrollierten. Im Unterschied zur Antike hatte selbst das Mittelmeer seine herausragende Bedeutung verloren. Dass von unserem Kontinent später die ganze Welt geprägt werden sollte, war keineswegs langfristig angelegt und ist auch kein Naturgesetz für alle Zeiten.

Erst recht marginal war der Anteil der Deutschen an der – wenn auch nur rudimentären – weltweiten Vernetzung des Mittelalters. In neueren Zeiten hat sich dies geändert. Die Globalgeschichte des mittelalterlichen Jahrtausends kann aber daran erinnern, dass Deutschland mitten in Europa liegt. Während die Länder im Westen, Süden und sogar Osten des Kontinents relativ leicht in globale Fernbeziehungen einbezogen wurden, waren das Reich und seine Bewohner viel stärker auf ihre unmittelbaren Nachbarn verwiesen.

Man kann in unserer unabänderlichen geografischen Lage einen Nachteil sehen, der durch die weltweite Vernetzung der Gegenwart an Bedeutung verloren hat. Virtuell ist heute jedermann an jedem Ort der Welt präsent. Es mag aber sein, dass die Aufregung über die Globalisierung schon bald abklingt und der Mensch als Wesen von Körper, Geist und Seele wiederentdeckt wird, das nur an einem Ort gegenwärtig sein und mit seiner ganzen Person auf andere seiner Art einwirken kann. Eine Renaissance der Nachbarschaften würde auch einer Geschichte Deutschlands im mittelalterlichen Europa neue Aktualität verleihen.

- Der Autor ist Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Artikel beruht auf einem Vortrag, den Michael Borgolte unlängst an der Hamburger Akademie der Wissenschaften im Rahmen der Akademievorlesungen 2011/12: „Deutschland und Europa: Wächst zusammen, was zusammengehört?“ gehalten hat.

Michael Borgolte

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