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Wissen: Die Odyssee der Kinder

Homer für alle: Wie eine katalonische Vorzeigeschule um die Integration von eingewanderten Schülern kämpft

Von Caroline Fetscher

Ramón Flecha ist ein Mann mit Mission. Millionen bildungsferner Menschen will er ans Lesen bringen, hin zum Buch, sogar zu den großen Klassikern. Seine Begeisterung ist fast unheimlich, und er lächelt breit, wenn er von ihr spricht. „Auch wer noch nie im Leben ein ganzes Buch gelesen hat“, davon ist Ramón Flecha überzeugt, „kann eine Beziehung entwickeln zu Kafka, Joyce, Garcia Lorca oder Homer!“ Was dem katalanischen Soziologen von der Universität Barcelona da vorschwebt, scheint utopische Träumerei. Umso erstaunlicher, dass die Europäische Kommission derlei Pläne mit viel Forschungsgeld aus Brüssel unterstützt. Noch erstaunlicher aber ist, dass diese Pläne Praxis werden, wirksame Praxis.

Fährt man aus der künstlerischen Metropole Kataloniens heraus, ein paar Kilometer fort von der Mittelmeerküste, ist das Flair von Barcelona bald vergessen. Auf staubigen Hügelketten, hier und da eine Palme und von Graffiti verzierte Reklametafeln, ziehen sich endlose Reihen von Siedlungen hin, Wohnblocks, auf deren Balkonen bunte Wäsche baumelt, Bauten, deren Schmuck aus Satellitenschüsseln und Blumentöpfen besteht. Am Rand der Autobahn taucht ab und zu ein leerer Spielplatz auf. Bevölkert sind die Wohnsilos vor allem von den „Neuankommern“, wie Flecha sagt: „The newcomers“. Er vermeidet Vokabeln wie „Immigranten“ oder gar „Ausländer“.

In den vergangenen zehn Jahren hat Kataloniens Bevölkerung von 6,5 Millionen sich um 1,3 Millionen Neuangekommene vermehrt. Sie kamen übers Meer, aus lateinamerikanischen Ländern wie Kolumbien und Ecuador, aus Afrika südlich der Sahara, die meisten aber aus dem Maghreb, aus Marokko.

Katalonien, autonome Region Spaniens, ist relativ reich, Nordafrika bitter arm. Nirgends in ganz Europa grenzt eine so arme Region an eine vergleichsweise so wohlhabende, und die wirkt wie ein Magnet. Aufzuhalten ist die Zuwanderung kaum, daher hat Spanien sie sukzessive legalisiert, um Steuern von den arbeitenden Migranten kassieren zu können und ihnen Zugang zum Gesundheitssystem zu eröffnen. Jeder halbwegs erfolgreich Angekommene zieht Familie, Freunde nach. „Sie haben ihre Netzwerke“, weiß Flecha. Sie brauchen keine Einladung. Einschlägig kundige Landsleute helfen denen, die ins Land wollen, sie kennen sich aus an den Häfen und Flughäfen, Unterkünfte und Kontakte werden besorgt, Papiere ergattert, Jobs gefunden. Die meisten der Zugezogenen sind zwischen 25 und 35 Jahre alt, und die jungen Zugezogenen haben Kinder, Kinder, Kinder.

„Wenn wir sie erfolgreich integrieren wollen, brauchen sie vor allem gute Bildung“, betont der Professor. Sein Lied klingt nicht neu, ganz Westeuropa singt es. Nur die Melodie ist hier anders. Ramón Flecha ist Kopf des Forschungsprojektes „Inlcud-Ed“ – das Akronym ist ein Wortspiel aus „Inclusion“ und „Education“ –, das seit 2006 in 14 EU-Staaten läuft und bis 2011 abgeschlossen sein soll. Hier will Brüssel Praxisnähe demonstrieren, und lädt zwei Dutzend Journalisten aus Riga im Norden bis Rom im Süden ein, an der Nähe teilzuhaben. Leichter gesagt als getan. Flechas Projekt kooperiert mit anderen, unter Akronymen aus dem Brüssler Dschungel segelnden Projekten wie „Emilie“, „Edumigrom“, „Gini“, „Cseyhp“ oder „Yippee“.

Mit Enthusiasmus und insgesamt bis zu 28 Millionen Euro aus Brüssel entwerfen Flecha und sein Team aus Pädagogen, Soziologen, Psychologen, Statistikern Lernmodelle, die an hundert Schulen in Europa erprobt werden. So an der Grundschule Madre de Déu de Montserrat in einem schäbigen Vorort von Barcelona, benannt nach einer Kult-Madonna im Kloster des Montserrat, was so viel bedeutet wie abgeschnittener, gekappter Berg. Dem Team der Reformer geht es um das Kappen eines anderen Berges, eines symbolischen: Die Bildungskurve, an deren Spitze sich die Eliten tummeln, soll flacher werden.

An der Madre-de-Déu-Schule laufen Jungen in Burnussen, Mädchen in Kopftüchern über den kahlen Beton des Hofs, andere in Hemden und Jeans, mit T-Shirts und Shorts. Eine Lehrerin treibt die kleine Herde in den ockerfarbenen Flachbau – jetzt wird die „Odyssee“ gelesen. Im Kreis versammeln sich dreißig Achtjährige bis Elfjährige auf kleinen Stühlen, eine kindgerechte Version von Homers Epos auf den Knien. Nirgends Scheu vor großen Werken! Dialogisches Lernen! Ramón Flechas Credo wird hier, wo der Anteil migrantischer Kinder sich seit 2002 vervierfacht hat, direkt umgesetzt. Seit damals haben sie die Lesekapazität der 230 Kinder von 17 auf 85 Prozent gesteigert.

Mit Odysseus und Penelope gehen die Schüler um wie mit Vertrauten aus Telenovelas, eine Odyssee über Land und Meer haben die meisten ihrer Familien ja auch hinter sich. Odysseus, „der ist super, weil der so stark ist und viele Abenteuer erlebt!“ freut sich Mustafa aus Marokko. „Wenn der Odysseus so lange unterwegs ist, darf Penelope in Ithaka ruhig mal einen andern Mann haben!“ findet ein Mädchen. „Nein, nein, das wäre gar nicht treu, nicht gut!“ protestiert ihre Nachbarin. Sie sprechen Katalanisch, lernen müssen sie außerdem die zweite Landessprache, Spanisch. Und, wie alle in Spanien, Englisch. Heiß, wortreich und gestenreich ist die von der Lehrerin moderierte Debatte um die Odyssee, der Einfluss einer enorm redefreudigen Kultur macht sich bemerkbar, Einsilbigkeit kennt man nicht. „Lesen soll für die Schüler Alltag werden“, dekretiert Flecha, „auch am Nachmittag, am Abend, an Wochenenden, in den Ferien, im Internet – überall.“ Auf die Frage, ob sie Fernsehen oder Bücher lieber mögen, entsteht ein kleiner, kontroverser Tumult: „Unentschieden“, glaubt die Lehrerin, die in ihrer Vorstellung die Lautstärke des Ausrufs „La tele! La tele!“ zu drosseln scheint.

Mühsamer als die Odyssee ist jedenfalls Englisch. Vier Gruppen von je fünf hocken um ihre Tische, die Konzentration ist hoch, Gemurmel füllt den Raum. Es geht um „Ellis Island“, den historischen Anlaufpunkt der Amerika-Auswanderer in New York. An jeden Tisch hat sich ein Lehrer oder ein unbezahlter Hilfslehrer gesellt. Ohne freiwillige Kräfte, darunter auch Studenten und Verwandte der Schüler, ist ein weiteres Kernstück des Wundermodells, nämlich „mehr Lernzeit für alle“, nicht durchzuhalten. Von den Inklusions-Millionen der EU oder des spanischen Staates sehen diese Kräfte nichts; dass manche einen starken Akzent haben, muss die Schulleitung hinnehmen. Alle Viertelstunde schlägt der Lehrer an eine Triangel, auf das Klingelzeichen wechseln die Kinder Tische und Gruppen. „So macht es mehr Spaß, mit mehr Dynamik“ erläutert der Lehrer die Idee der „interaktiven Gruppen“.

Besonders stolz präsentiert die Madre-de-Déu-Schule ihre lesende Müttergruppe. Fünf bis sechs marokkanische Frauen in langen Gewändern und mit bedecktem Haar beugen sich hier seit Monaten einmal pro Woche über Federico Garcia Lorcas Drama „Bernarda Albas Haus“. Die Geschichte von der andalusischen Witwe, die fünf Töchter verheiraten und den Ruf ihres Hauses wahren will, haben die lesenden Mütter selber unter mehreren Vorschlägen ihrer beiden Lernassistentinnen ausgewählt. Scheu und eifrig buchstabieren sie Zeile für Zeile. Kleinkinder dürfen sie mit hierher bringen, Muhammad und Aya, etwa zwei und drei Jahre alt, langweilen sich ziemlich, während die Mutter buchstabiert.

Wirken Eltern aber an der Schule mit, ganz gleich wie, das sagen sie hier, dann bessern sich die Noten, dann schrumpft die Zahl der Schulschwänzer, dann können Lehrer und Erzieher auch die Grundrechte von Kindern, etwa gewaltfreie Erziehung, leichter vermitteln. Mutter Habiba M. sieht die Sache pragmatisch: „Wir lernen die Sprache, damit wir uns mit den Nachbarn verständigen können oder beim Einkaufen.“

Für Europas Migranten, so der Konsens hier an der Schule und unter den Wissenschaftlern, braucht man von Finnland bis Malta mehr, andere, neue Konzepte als übliche Schulen sie bieten. „Das ist Europas multikulturelle Herausforderung!“ erklärt Ramón Flecha. Alle, von Belgien über Frankreich und Deutschland bis Lettland, sollen sie von den neuen Grundschulmodellen profitieren – schließlich will man die Millionengaben aus Brüssel rechtfertigen. Immer wieder beschwört Flecha seine Lieblingsformel: „Erfolg hängt nicht vom Elternhaus ab – wir können das beweisen!“ Klar aber wird vor allem eins, bei diesem Blick in die Praxis an einem Brennpunkt Europas: Mit unbezahlten Freiwilligen und gut bezahlten Wissenschaftlern wird sich das nicht machen lassen. Neben klugen Konzepten brauchen Grundschulen vor allem, was sie auch in Deutschland fordern: Mehr Personal, mehr Zeit, mehr Geld, um Millionen migrantischer Kinder in Europa auf ihrer Odyssee ins Ithaka der Bildung zu lotsen.

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