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Wissen: Die Rebellen von der Lahn

Siedelten die Römer lange nach der Varusschlacht in Germanien? Zu den Bewohnern könnten Legionäre gehört haben, die gegen den Kaiser meuterten.

Die Frevler gingen mit schwerem Gerät und großer Wut ans Werk. Sie stürzten den Kaiser vom Sockel und schlugen die goldüberzogene Bronzestatue in unzählige Stücke. 2000 Jahre später klaubten Archäologen hunderte Fragmente des römischen Reiterstandbilds aus dem Boden bei Waldgirmes an der Lahn. Doch vermutlich hatten nicht siegreiche Germanen das Symbol kaiserlicher Herrschaft zertrümmert, sondern rebellische römische Soldaten.

Mit dieser frappanten These versucht Armin Becker die neuesten archäologischen Funde in Waldgirmes zu erklären: Roms erste – und einzige – Stadt mitten im feindlichen Germanien existierte offenbar länger als bislang gedacht und war von den Erschütterungen durch die Varusschlacht nicht betroffen. Der Archäologe der Römisch-Germanischen Kommission (RGK) in Frankfurt rückt damit eine archäologische Stätte wieder in die Diskussion um das römisch-germanische Mit- und Gegeneinander, die im Jubiläumsjahr der Schlacht im Teutoburger Wald etwas an den Rand gerückt war.

Denn Waldgirmes ist noch immer ein solitärer Zeuge aus unruhiger Zeit in Mitteleuropa: Die Kelten waren im freien Germanien nicht mehr tonangebend, die Germanen als Machtfaktor noch nicht so richtig präsent. Da bauten die Römer um 4 vor Christus zwischen den heutigen Städten Wetzlar und Gießen eine rein zivile Stadt, 100 Kilometer vom sicheren Rhein entfernt. „Das schmeißt einiges um, was man bislang über die römische Expansionspolitik und das Zusammenleben von Germanen und Römern zu wissen meinte“, sagt Siegmar Freiherr von Schnurbein, ehemaliger Chef der RGK, die zum Deutschen Archäologischen Institut in Berlin gehört.

Und das las sich so: Nach Cäsars Tod waren die Römer innenpolitisch blockiert und hatten außenpolitisch zu tun, das gerade eroberte Gallien zusammenzuhalten. Die römische Präsenz östlich des Rheins beschränkte sich auf temporäre Lager und gelegentliche militärische Vorstöße in den Jahren 11 bis 9 vor Christus. Unter Augustus, so die Lehrmeinung seit Mommsen, gab es keine strategische Planung zur Eroberung und Einrichtung einer „Provinz Germanien“ zwischen Rhein und Elbe.

Und dann tauchte unter den Spaten der Frankfurter Forscher aus dem Lößboden des Lahntals diese Siedlung auf. Aus den Puzzlestücken Mauersteine, Bronzestücke, Pfostenlöcher, Holzkohle, Bleiklumpen, Bodenverfärbungen und Gräben setzten die Archäologen mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit 1993 ein Mosaik zusammen, das dem Ort ein prägnantes Gesicht gibt und klar macht, dass es sich „um die Keimzelle einer römischen Stadt handelt“, so die Archäologin Gabriele Rasbach von der RGK.

Von außen erweckte der Ort – mit drei Toren, zwei Spitzgräben vor einer massiven Holzwehr auf dem Erdwall – den Eindruck eines Militärlagers. Doch innen gab es weder Kasernen noch Appellplatz. Stattdessen zwei breite sich kreuzende Straßen mit einer Abwasserrinne in der Mitte, Remisen, Speicher, Tavernen, Bauten mit Laubengängen und Häuser im mediterranen Atriumstil. „Hier lebten Menschen, die einen Anspruch auf gehobenes Wohnen hatten“, sagt Armin Becker.

Der dominierende Bau war das Forum, das unerlässliche Zentrum einer jeden römischen Stadt. An die große Versammlungshalle, die Basilika, waren zwei Apsiden und ein Viereckbau angegliedert. Hier saß die zivile Verwaltung, hier wurde Recht gesprochen. In den Wandelhallen wickelte man Geschäfte ab oder frönte dem gehobenen Müßiggang. Und im Innenhof stand auf einem der fünf massiv gemauerten Podeste die vergoldete Bronzestatue des Kaisers: Hier ist Rom!

Und das mit einer eindeutigen Zukunftsperspektive: In Waldgirmes, analysiert von Schnurbein, „ist das Forum für die vorhandene Besiedlung zu groß. Das Ganze war eindeutig auf Wachstum angelegt“. Der Ort an der Lahn sollte offenbar – wie etwa Trier – das Verwaltungszentrum für ein germanisches Gebiet werden, das zum römischen Reich gehörte. „Das alles können wir natürlich nicht beweisen“, gibt von Schnurbein zu, „aber die archäologischen Funde sprechen eindeutig für diese Interpretation.“ Armin Becker betont die Einzigartigkeit von Waldgirmes: „Es war eine ,Stadt in Gründung‘. Das gibt es sonst in keiner anderen römischen Siedlung in eroberten Gebieten.“

Die ersten Bewohner dieser zivilen Anlage waren vermutlich Handwerker und Händler, Verwaltungsfachleute und Experten, die etwas von Straßenbau, Verkehrserschließung, Landwirtschaft und Landesentwicklung verstanden – Staatsdiener eben. Der hohe Anteil grober germanischer Keramik in der römischen Siedlung lässt nach Meinung der Ausgräber nur den Schluss zu, dass in Waldgirmes Römer und Germanen zusammenlebten – und zwar friedlich. Hier wurde Koexistenz praktiziert. Die Römer wollten offensichtlich bleiben. Aber irgendwann wurde die goldene Bronzestatue zerschlagen und die Stadt verlassen. Zunächst setzten die Archäologen für beides das Jahr 9 nach Christus an – die „Varusschlacht“ habe auch der zivilen Besiedlung Germaniens ein Ende gesetzt.

Als im August dieses Jahres der nahezu komplette Pferdekopf der Reiterstatue in einem Brunnen gefunden wurde, machte das Schlagzeilen. Die wirkliche Überraschung war sehr viel unscheinbarer, setzt jedoch neue Zeitmarken: Die Archäologen entdeckten in ihren Grabungskampagnen über der Innenstadtstraße eine massive Gitterkonstruktion aus Holzbalken. Deren Zwischenräume waren mit Schotter aufgefüllt und planiert – die Straße war ausgebaut oder renoviert worden, offenbar erwartete man mehr Verkehr. Im Füllschutt unter diesem Bauwerk fanden die Ausgräber weitere Fragmente der zerschlagenen Statue.

„Damit ist die Reihenfolge klar“, sagt Becker. „Erst wurde die Statue zerschlagen, dann wurde die Siedlung wieder- oder weiterbenutzt, die Straße renoviert und danach erst ging die Stadt in Flammen auf und wurde aufgegeben.“ Dafür setzt der Archäologe der RGK jetzt das Jahr 16 an, als nach den verlustreichen und erfolglosen Rachefeldzügen des römischen Feldherrn Germanicus alle Aktivitäten Roms im freien Germanien auf Befehl des Kaisers Tiberius eingestellt wurden.

Wer hat dann die Statue zerschlagen – und wann? Armin Becker vermutet unter den römischen Bewohnern Waldgirmes eine spezielle Gruppe: Entlassene Soldaten, denen wie üblich Land in „befriedeten“ Gebieten zugewiesen worden war. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus berichtet von Legionären, die – zunächst im Donauraum, dann imperiumsweit – um 14 nach Christus ihrer Wut gewaltsam Luft machten, weil sie nach 25 Jahren Militärdienst mit unfruchtbaren Böden in krankmachenden Gegenden abgespeist wurden. Dass ein solches Unmutspotenzial („Waldgirmes statt Mittelmeer!“) in eine Meuterei unzufriedener Legionäre mündet, kann sich Armin Becker auch an der Lahn vorstellen.

Sein Szenario: „In meinen Augen ist das wahrscheinlichste Modell, dass die Statue um 14 nach Christus bei inneren Unruhen zerschlagen und der Platz später für die Feldzüge des Germanicus noch einmal aufgesucht und ausgebaut wurde; eventuell war die Stadt sogar noch in Betrieb.“ Das Ende der ersten zivilen römischen Stadt im freien Germanien wäre nach dieser Lesart erst um 16 nach Christus durch den Tiberius-Befehl zum kompletten Rückzug besiegelt worden. Das aber bedeutet, sagt Armin Becker, „dass Süddeutschland von der Varusschlacht und ihren Auswirkungen nicht betroffen war.“

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