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Medizin: Auch Autisten können im Beruf erfolgreich sein

Autisten können sich nicht in andere hineinversetzen, Grund ist eine Hirnanomalie. Dennoch können sie im richtigen Job Karriere machen.

Manche Kinder fallen schon im ersten Lebensjahr auf: Weil sie der Mutter nie in die Augen sehen, steif oder schlaff auf ihrem Schoß sitzen, Zärtlichkeiten gleichgültig hinnehmen oder abwehren, die Eltern auf ein Lächeln oder Babygebrabbel warten lassen. Das beunruhigt sie. Ist ihr Kind womöglich geistig behindert? Das kann, muss aber nicht sein. Nach eingehender Untersuchung und nach Befragung der Eltern stellen die Ärzte manchmal eine autistische Störung fest. Die kann bei jeder Intelligenz vorliegen.

Bei den Eltern löst die Diagnose Schuldgefühle aus. Haben sie etwas falsch gemacht? Zumindest hier können die Ärzte sie entlasten. „Ein Kind wird autistisch geboren“, sagte der Kinder- und Jugendpsychiater Helmut Remschmidt von der Universitätsklinik Marburg bei einer Veranstaltung zum Autismus im Rahmen des Bundesärztekammer-Forschungs- und Fortbildungsforums in Berlin. Autismus ist laut Remschmidt die am stärksten genetisch mitbedingte unter den schweren Störungen, die in der Kindheit beginnen. Vermutlich sind etliche Gene beteiligt.

Das Kind, das stumm und scheinbar stumpf in der Ecke sitzt, aber in Wirklichkeit ein Genie ist: das ist zwar ein beliebtes Medienthema, doch die große Ausnahme. Weltweit gibt es vielleicht hundert Personen, die zugleich autistisch und genial sind, schätzt Inge Kamp-Becker, Psychologin in Remschmidts Klinik. Unter ihren Autismus-Patienten hatte sie bisher nur einen mit hoher Spezialbegabung bei sonst eher mäßiger Intelligenz: einen Kenner der Barockmusik, der ein Ensemble gründete und CDs herausgibt. Andere wissen zum Beispiel alles über Rasenmäher oder Verkehrszeichen; manche können die fernsten Kalenderdaten hersagen oder haben ein fotografisches Gedächtnis.

Autismus kommt in so vielen Varianten und Schweregraden vor, dass man international seit kurzem von „Autismus-Spektrum-Störungen“ spricht. Am einen Ende des Spektrums steht der frühkindliche Autismus, oft mit geistiger Behinderung verbunden, am anderen Ende das Asperger-Syndrom. Es wird wohl bald den Namen des Erstbeschreibers verlieren, denn es ist laut Remschmidt kaum vom „hochfunktionalen Autismus“ zu unterscheiden. Dabei ist die Denkfunktion nicht gestört, die Intelligenz kann sogar überdurchschnittlich hoch sein. Auch ist bei dieser Form die Sprachentwicklung nicht beeinträchtigt; deshalb fallen die Kinder oft erst in der Schule auf.

Gemeinsame Merkmale des ganzen Autismus-Spektrums sind stereotypes Verhalten mit ständigen Wiederholungen und starre Rituale – zwar auch bei gesunden Kindern in einem bestimmten Alter zu beobachten, aber nie so extrem und anhaltend. Ungewohntes bringt solche Menschen aus dem Konzept, kann sie sogar ängstigen. Ein Kind wurde von einer Baustelle so irritiert, dass es den Weg zum Kindergarten nicht mehr fand.

Oder: ein autistischer Chef, der seine Firma auf immer dieselbe Art schlecht und recht führt, ist völlig konsterniert, als ein Mitarbeiter ihm einen Verbesserungsvorschlag macht, berichtete Kai Vogeley von der Autismus-Ambulanz am Kölner Universitätsklinikum. Er sprach über den noch wenig erforschten hochfunktionalen Autismus der erwachsen gewordenen Patienten. Selbst bei hoher Intelligenz und gut bewältigter Ausbildung bleibt ihr Handicap: die schwerwiegende emotionale Behinderung aller Autisten. Sie haben größte Schwierigkeiten, mit anderen Menschen ganz selbstverständlich zu kommunizieren und angemessen mit ihnen umzugehen, können auch Ironie und Witze nicht verstehen.

Vor allem sind sie unfähig zur Empathie, können sich also nicht intuitiv in andere hineinversetzen. Man hat diese Defizit „Seelenblindheit“ genannt.

Das ist keine Charakterschwäche, sondern Folge einer Hirnanomalie. Da man dank der neuen bildgebenden Verfahren jetzt in der Lage ist, dem Gehirn beim Arbeiten zuzusehen, konnte Remschmidt ein eindrucksvolles Beispiel dafür bringen: Das Kernspintomogramm zeigt, in welcher Region des gesunden Gehirns Gesichter und wo Objekte erkannt und verarbeitet werden. Ein autistischer Mensch erkennt ein Gesicht in dem Hirnareal, das für die Erkennung von Objekten bestimmt ist. Ein Gesicht, ein anderer Mensch ist für ihn also kein Subjekt, sondern nur ein Objekt.

Viele Erwachsene mit hochfunktionalem Autismus (Asperger-Syndrom) sind fachlich exzellent. Trotzdem ist etwa jeder dritte seit mindestens sechs Jahren arbeitslos, berichtete Vogeley.

„Auch autistische Menschen können in ihrem Beruf sehr tüchtig sein – auf dem richtigen Platz“, betonte Remschmidt. Gefragt, warum er seinem ausführlich vorgestellten Vorzeige-Patienten nicht abrät, ausgerechnet Lehrer zu werden, meinte er jedoch, dies sei nicht seine Aufgabe. Er äußerte sich aber positiv über eine autistische Ärztin, die seinen Rat selbst gesucht hatte, weil sie sich danach für eine medizinische Tätigkeit mit Apparaten statt mit Menschen entschied.

Eine ursächliche Behandlung des Autismus existiert nicht, denn der Hirnstrukturdefekt ist nicht zu beeinflussen. Es gibt zwar einen „Dschungel von Therapien, darunter viele unseriöse“, meinte Inge Kamp-Becker; ein Nutzen ist aber nur für verhaltenstherapeutische Verfahren belegt. Damit lässt sich erreichen, dass die Betroffenen im Alltag besser zurechtkommen, weniger auffallen, sich einigermaßen anpassen können und das Nötigste über den Umgang mit anderen Menschen lernen. Aber das bleibt mechanisch. Intuition lässt sich nicht lernen.

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