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Wissen: Die zweite Karriere des Mordopfers Ötzi

Auch 20 Jahre nach ihrer Entdeckung ist die Eismumie für Überraschungen gut. Noch immer streiten sich Wissenschaftler um die genaue Todesursache

Vor 20 Jahren entdeckten Wanderer in den Alpen einen Leichnam, der kurz darauf als „Ötzi“ weltbekannt wurde. Unzählige Male wurde die Mumie des Alpenbewohners untersucht – und gibt doch immer wieder neue Geheimnisse preis. Muskelreiches Steinbockfleisch und Getreidekörner hatte der Jäger und Sammler zuletzt gegessen. Sein nach oben in den Brustkorb verschobener Magen war noch gut gefüllt. Da Kohlehydrate und Fett im Magen rasch verdaut werden, „kann Ötzi seine Mahlzeit maximal eine Stunde vor seinem Tod zu sich genommen haben“, sagt Albert Zink, oberster Hüter der steinzeitlichen Eismumie in Bozen. Der Leiter des „Instituts für Mumien und den Iceman“ in der Europäischen Akademie (EURAC) stellt denn auch die gängige These von Ötzis Tod auf einer überhasteten Flucht infrage. Dem Magazin „epoc“ sagte er: „Die Ergebnisse deuten auf ein anderes Szenario seines Ablebens.“ Auf mehr lässt er sich vorerst nicht ein.

Pünktlich zum 19. September 2011, dem 20. Geburtstag in seinem zweiten Leben, sorgt der Mann aus dem Eis somit für eine weitere Überraschung, und ein Ende ist nicht abzusehen. Im Oktober sollen auf dem offiziellen Geburtstagssymposium die bisherigen Ergebnisse der genetischen Untersuchungen vorgestellt werden. Eine Frage, die die Forscher beantworten wollen: Leben heute noch Nachfahren von Ötzi?

Die am besten untersuchte Mumie der Welt wurde von einem Nürnberger Ehepaar bei einer Wanderung in den Ötztaler Alpen in Südtirol in 3210 Meter Höhe entdeckt. Der im Rekordsommer 1991 schwindende Gletscher vom Hauslabjoch hatte eine Geländemulde freigegeben und damit einen Eissarg geöffnet.

Ein Archäologe der Universität Innsbruck taxierte den Leichnam auf ein Alter von mehr als 5000 Jahren. Die später erhobenen Radiokarbondaten bestätigten ihn: Die Gletschermumie, die man bald nur noch Ötzi nannte, wurde irgendwann zwischen 3359 und 3105 v. Chr. vom Schnee bedeckt und vom Gletscher eingesargt. Das muss rasch passiert ein, denn weder Luft oder Sonne, noch Tiere oder Bakterien haben dem Leichnam zugesetzt. Er wurde „schockgefroren“ und als natürliche Feuchtmumie perfekt bis 1991 erhalten.

Ötzi ist damit der einzige authentische Zeuge der ausgehenden Stein- und beginnenden Kupferzeit. All die anderen (spärlichen) Funde aus dieser Epoche sind Siedlungsspuren und Skelette aus Gräbern mit ihren rituellen Beigaben. Ötzi aber wurde direkt aus dem Leben gerissen – ein Kronzeuge par excellence. Auch seine Kleidung, Waffen und Geräte sind die einzigen originalen Stücke aus dem steinzeitlichen Alltag.

Sieben Jahre hatten die Wissenschaftler der Universität Innsbruck die Eismumie in ihrer Obhut, 1998 wurde sie in das neu geschaffene Ötzi-Museum nach Bozen überführt. 2001 entdeckten die Wissenschaftler in der linken Schulter der Mumie eine Pfeilspitze. Damit war klar: Der Mann im Eis war nicht an Ermattung gestorben. Der Mythos Ötzi war geboren. Die Spekulationen um Ötzis Tod halten seitdem an.

Aus den vielen Untersuchungen erschließt sich ein präzises Bild vom Leben des Eismannes. Ötzi war zwischen 40 und 45 Jahre alt, für damalige Bedingungen also recht betagt. Er wog gesunde 50 Kilogramm bei einer Körpergröße von etwa 1,60 Meter. Seine blauen Augen changierten nach neuesten Gen-Untersuchungen in Braun, die Farbe, die auch seine Haare hatten. Er hatte Karies und litt unter Darmparasiten. Die Abnutzung an Ötzis Gelenken ist erstaunlich gering, so dass nunmehr von einem Clanchef ausgegangen wird, der harte körperliche Arbeit delegieren konnte. Die Thesen vom verirrten Hirten oder einsamen Erzprospekteur gelten als widerlegt. Anderes ist weiterhin denkbar: transalpiner Händler, Jäger, Karawanenchef.

Ötzis Kupferbeil, ein Statussymbol erster Ordnung, stammte aus der Gegend des österreichischen Mondsees im Salzburger Land. Der Feuerstein seiner Dolchklinge dagegen kam aus einem Steinbruch am Gardasee. Isotopenuntersuchungen seines Zahnschmelzes zufolge wuchs Ötzi im Südtiroler Vinschgau auf. Die Pollen von Bäumen und Gräsern, die in seinem Darm und an seinen Geräten gefunden wurden, belegen, dass er zwischen Oberitalien und den Nordtiroler Bergtälern unterwegs gewesen ist.

Die Alpen stellten offenbar in der Steinzeit kein Hindernis für Menschen, Material und Ideen dar. Das wurde durch die archäologischen Forschungen klar, die nach dem Fund der Mumie explosionsartig zunahmen. Da wurden regelmäßige Handelsrouten von Oberitalien über die Pässe bis ins nördliche Alpenvorland oder in die Westschweiz gefunden. Man kam den Bauern und Hirten mit ihren Kühen und Ziegen auf die Spur, die schon länger saisonweise auf den Hochalmen unterwegs waren. Die ersten festen Siedlungen werden auf die Zeit kurz nach der Ötzi-Ära datiert. In der Kupfer- und Bronzezeit wurden die Erzlagerstätten der Alpen erschlossen.

Ötzi war für diese Forschungen, die unser Wissen über die alpine Vorgeschichte entscheidend erweitert haben, die Initialzündung. Er selbst birgt immer noch Geheimnisse. Die sechs Moosarten zum Beispiel, die schottische Forscher in Ötzis Darm gefunden haben, bleiben vorerst ein Rätsel, sie schmecken nicht und haben keinen Nährwert. Schwedische Wissenschaftler suchen nach Magenbakterien, eine Magenspiegelung dazu allerdings misslang, da die Speiseröhre für das Endoskop zu eng war. Deutsche Biochemiker korrigierten vor Kurzem Ötzis Mode: Hose und Mantel seien nicht aus Ziegenfell gefertigt gewesen, wie bislang angenommen, sondern aus Schafhäuten.

Die Schuhe seien, so fand eine Bozener Museumsforscherin heraus, beschädigt gewesen und notdürftig mit einem Senkel zusammengehalten worden. Damit wäre kein erfahrener Mann auf eine geplante Bergtour gegangen. Das sehe nach einem Notbehelf aus – also doch Flucht und Verfolgung? An seinem Bogen schnitzte Ötzi schließlich auch noch herum und von den 14 Pfeilen im Köcher seien nur zwei einsatzbereit gewesen. Die tiefe Schnittwunde zwischen Daumen und Zeigefinger deutet auf die Abwehr einer Messerattacke hin. Und der Bogenschütze, der Ötzi traf, hat seinen heimtückischen Angriff von hinten ausgeführt.

Die Pfeilspitze in Ötzis linker Schulter wurde bei ihrer Entdeckung 2001 nicht als unbedingt tödlich angesehen. Untersuchungen mit einem verbesserten Computertomografen im Jahr 2005 zeigten aber, dass dabei eine Arterie am Schlüsselbein aufgeschlitzt wurde. „Wird diese Arterie getroffen,“ sagt Ötzi-Hüter Albert Zink, „dann verblutet man in 15 Minuten.“ Dem widersprachen neuerdings andere Innsbrucker und Bozener Ötzi-Forscher. Erst ein frontaler Angriff mit einem Schlag auf den Kopf ließ Ötzi stürzen und an einem Schädel-Hirn-Trauma sterben, sagen sie.

Nur eines ist sicher: Es war Mord.

Weitere Einblicke in die Detektivarbeit der Forscher sowie in politische Querelen um Ötzi zwischen Österreich und Italien lesen Sie im Tagesspiegel am Sonntag.

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