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Vier junge Frauen und Männer gehen über einen Platz, in ihren Rücken ist das Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu sehen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Diskussion um die Anwesenheitspflicht an der Uni: Studieren, ohne da zu sein

Nordrhein-Westfalen hat die Anwesenheitspflicht in Seminaren an der Uni abgeschafft. Ein Vorbild für den Rest der Republik? In Berlin wird jedenfalls über den Sinn der Namenslisten diskutiert - und manchmal verschwinden sie einfach.

Neulich, es war der 1. April, postete das Germanistische Institut der Uni Bochum folgendes: Man ermögliche den Studierenden nun, „einen universitären Abschluss zu erlangen, ohne jemals die Universität zu betreten“. Ein Aprilscherz, klar, auch Germanisten haben Humor. In Wahrheit war die Meldung aber eine Spitze gegen die Landesregierung NRW und deren neues „Hochschulzukunftsgesetz“, das vergangenen Oktober in Kraft trat und einen folgenreichen Absatz enthält: Dozenten ist es untersagt, ihre Studierenden zur Teilnahme an einer Lehrveranstaltung zu verpflichten.

Seitdem streiten die Beglückten mit den Empörten: Die einen finden, dass die neue Regelung die Mündigkeit von Studierenden stärkt, weil sie frei entscheiden dürfen, wann sie in einer Lehrveranstaltung anwesend sein wollen. Die anderen meinen, die Lehre sei symbolisch entwertet – als sei es egal, was im Seminargespräch stattfindet, solange die Studentin am Ende die Prüfung besteht.

Wird ohne Anwesenheitspflicht der Sinn der Uni infrage gestellt?

Es ist ein ideologischer Streit, der am universitären Selbstverständnis rührt. Die in Deutschland beschworene „Einheit von Forschung und Lehre“ beruht darauf, dass Lehrende und Studierende einander begegnen. Dokumentiert die Preisgabe der Anwesenheitspflicht also „Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Universität“ als solcher, wie der Bonner Soziologe Rudolf Stichweh schrieb?

Für politisch engagierte Studierende ist es Ehrensache, die neue Regelung zu begrüßen. „Wir sind erwachsen und können selbst entscheiden, ob es für uns sinnvoll ist, an einer Seminarsitzung teilzunehmen“, findet Moritz Fastabend vom Asta in Bochum. Nicht alle Dozenten halten sich an das neue Gesetz, also hat der Bochumer Asta, wie auch an der Uni Münster, einen „Anwesenheitspflichtmelder“ ins Netz gestellt. Über 300 Meldungen seien inzwischen eingegangen.

Fördert das nicht die Denunziationskultur, die der Asta just der Anwesenheitskontrolle vorwirft? Seit Oktober sei es nun einmal „gesetzeswidrig“, die Studierenden mit Namenslisten zu drangsalieren, sagt Fastabend. Manche Dozenten hätten gedroht, Studierende aus dem Seminar zu schmeißen, wenn sie mehr als zweimal fehlen.

Über die Vorlesung wird mit den Füßen abgestimmt

Für Berlins Hochschulen gibt es keine landesweite Verordnung. Das Thema sei in den letzten Jahren zwar diskutiert worden, doch habe man keinen Bedarf für eine gesetzliche Regelung gesehen und baue auf die Hochschulautonomie, heißt es aus der Wissenschaftsverwaltung. Hans-Ulrich Heiß, Vizepräsident für Forschung und Lehre an der Technischen Universität, sagt, in Vorlesungen sei es im Prinzip egal, wie viele anwesend seien – da gebe es eine „Abstimmung mit den Füßen“. Wo man aber etwa die „Handhabung mit chemischen Stoffen erlernt“, sei die Anwesenheitspflicht selbstverständlich. Namenslisten seien an der TU üblich und würden von allen pragmatisch gehandhabt.

Auch an der Humboldt und der Freien Universität gibt es keine „generelle Anwesenheitspflicht“, wohl aber sehen die Prüfungsordnungen eine regelmäßige Teilnahme von 75 Prozent (HU) und 85 Prozent (FU) vor. Den Fachbereichen ist es überlassen, diese zu kontrollieren. In Dahlem hat das Widerstand hervorgerufen. Man wehre sich grundsätzlich „gegen Kontrolle und Überwachung“, sagt Philipp Bahrt vom Asta der FU. Dort wurde ein „Fundbüro“ für Anwesenheitslisten eingerichtet – ein Aufruf an Studierende, sie verschwinden zu lassen. So will man die Schwachen schützen, denen ein regelmäßiger Besuch der Seminare gesundheitlich oder finanziell nicht möglich ist. Das NRW-Gesetz sei vorbildlich, sagt Bahrt, es verhindere, dass Studierende vor ihren Dozenten „als Bittsteller auftreten müssen“, wenn sie nicht teilnehmen können.

"Studierende sollen meine Veranstaltungen aus freien Stücken besuchen"

Die Haltung sei legitim, meint Uta Wilkens, schließlich verträten die Asten studentische Interessen. Sie ist Prorektorin für Lehre an der Uni Bochum und kennt die Argumente, dass Doppelbelastungen durch Geldverdienen, Wohnung suchen, Kindererziehung die regelmäßige Teilnahme erschwerten. Sie findet auch, dass Zwang nichts bringe: „Die Studierenden sollen meine Veranstaltungen aus freien Stücken besuchen.“ Die „Stilmittel des Asta“ – wie den Anwesenheitsmelder – aber lehnt Wilkens ab.

Vor allem aber stelle der Gesetzesabschnitt eine „peinliche Überregulierung“ durch die Politik dar. Indem sie Studienbeiträge abgeschafft habe und neue Lernformen wie das Teilzeitstudium, Online-Kurse anerkenne, versuche die Landesregierung, „studierendenfreundlich“ auszusehen, kritisiert Wilkens. Die Anwesenheitskultur im Landesgesetz festzuschreiben „nimmt den Universitätsmitgliedern jedoch ihre Mündigkeit“.

Aktive Teilhabe macht die Stärke der Uni aus, sagt ein Professor

Die Lagerbildung entspinnt sich nicht zuletzt an der Auslegung des Gesetzes. Eine „verpflichtende Teilnahme der Studierenden an Lehrveranstaltungen darf als Teilnahmevoraussetzung für Prüfungsleistungen nicht geregelt werden“, steht im Paragraf 64, Absatz 2a – „es sei denn, bei der Lehrveranstaltung handelt es sich um eine Exkursion, einen Sprachkurs, ein Praktikum, eine praktische Übung oder eine vergleichbare Lehrveranstaltung“. Was aber ist eine „vergleichbare Lehrveranstaltung“? Seminare gehörten nicht dazu, weil sie „der Vermittlung fachlicher Kompetenzen und Fähigkeiten“ dienten und nicht der „Einübung des wissenschaftlichen Diskurses“.

Gerade in den Geisteswissenschaften sind aber „fachliche Kompetenz“ und „wissenschaftlicher Diskurs“ kaum zu scheiden. „Natürlich kann man in zehn Sätzen darlegen, was der Begriff der Hermeneutik besagt. Doch die abstrakte Methode muss kontinuierlich und konkret an komplexen Texten eingeübt werden“, sagt Ernst Osterkamp, Germanistikprofessor an der Humboldt Universität. Studierende müssten lernen, die Thesen der Lehrenden im Gespräch zu überbieten oder kritisch zu revidieren. Diese intellektuelle Entwicklung sei ohne eine kontinuierliche Anwesenheitssituation unmöglich. „Die Stärke der Universität basiert auf aktiver Teilhabe“, sagt Osterkamp.

Der Protest richtet sich gegen traditionelle Lehrer-Schüler-Verhältnisse

Namenslisten findet Osterkamp indes kleinlich: „Man muss die Studierenden an ihrem Erwachsensein packen, nicht am Recht.“ Die Diskussion des Themas hat für ihn Symptomcharakter und verrate etwas über die Entpersonalisierung der Hochschulen. Die universitäre Lehrkultur basiere auf einem „doppelseitigen Lehrer-Schüler-Verhältnis“. Osterkamp versteht das Seminargeschehen als Ort wachsenden Vertrauens, das durch die Studienreform allerdings unterminiert werde. Manchmal hoffe er, aufgeweckte Studierende im nächsten Seminar wiederzutreffen – doch dann habe sie das Modulsystem längst in andere Lehrveranstaltungen gespült.

Gegner der Anwesenheitspflicht wollen gerade solch traditionelle Lehrer-Schüler-Verhältnisse demokratisieren. Sie argumentieren wie Philipp Bahrt vom Asta: „Studierende beweisen sich in der Prüfung. Wie, wann und bei wem sie etwas gelernt haben, ist unerheblich.“ Ist also bloß ein eitler Narziss, wer die Anwesenheit in seinen Seminaren als zwingend erachtet?

„Ich empfinde es in der Tat als Kränkung, wenn jemand wiederholt fernbleibt“, gibt Osterkamp zu. „Nicht aus Hierarchiegründen, sondern weil individuelle Förderung nur funktioniert, wenn man sich kennt.“ Nicht alle Studierenden bräuchten ein gewachsenes Betreuungsverhältnis. „Aber wenn die Anwesenheitspflicht aufgegeben wird, anonymisiert sich die Universität in einem Grade, den ich beklagenswert finde.“

Mit dem Gesetz habe man „rechtliche Klarheit“ schaffen wollen, teilt das NRW-Ministerium mit. Bekanntlich ist auch die Jurisprudenz eine hermeneutische Wissenschaft. Ob die Universität eine „Anwesenheitsinstitution“ (Stichweh) bleibt, ist also weiterhin Auslegungssache derjenigen, die das Deutungshandwerk an der Universität erlernt haben.

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