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Durchbrüche in der Wissenschaft: Kontakt mit der Zukunft

Wissenschaftler als Mauerspechte: Auf der großen Auftaktkonferenz der Einstein-Stiftung identifizieren Forscher, in welchen Bereichen künftig Durchbrüche zu erwarten sind. Ein Beispiel: Die Impf-Forschung.

In der Wissenschaft ist oft von Durchbrüchen die Rede. Nicht jeder stellt sich am Ende als ein solcher heraus, aber es war ein kluger Schachzug der Einstein-Stiftung, ihre erste große Veranstaltung auf den 9. November zu legen, den Tag des Mauerfalls, den Tag des großen Durchbruchs.

Der Paläontologe Michel Brunet vom Collège de France eröffnete am Montagmorgen als erster den Reigen der Vorträge, die alle unter dem Motto „fallende Mauern“ (falling walls) standen. Brunet wurde 2002 über Nacht zum „Paläostar“, wie das Magazin „Science“ schrieb, als er nach jahrelangen entbehrungsreichen Grabungen in einer Wüste im nördlichen Tschad den weitgehend erhaltenen Schädel eines sieben Millionen Jahre alten Frühmenschen zutage förderte.

Der „Toumai“Mensch war aus zwei Gründen eine Sensation: Sein hohes Alter machte ihn zum mit Abstand ältesten bisher gefundenen Überrest eines Frühmenschen. Und zum anderen fand sich das Fossil 2500 Kilometer westlich des ostafrikanischen Rift Valley, das bis dato als „Wiege der Menschheit“ galt. Brunets Fund hatte den Geburtsort schlagartig in die Mitte Afrikas verlegt. „Der Toumai-Mensch hat die Mauer durchbrochen“, scherzte Brunet. Allerdings gibt es Wissenschaftler, die die „Menschenartigkeit“ seines Fundes infrage stellen und Sahelanthropus – so der wissenschaftliche Name – eher als Gorilla einstufen.

Brunet hat sich ein neues Ziel gesetzt, eine neue Mauer, die es einzureißen gilt: er will den letzten gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Schimpanse finden. Dem temperamentvollen Brunet kann man dies trotz seiner mittlerweile 69 Jahre auch noch zutrauen. Aber wie sieht der Mensch in einer Million Jahre aus, wollte ein Zuhörer wissen. „Das kann man nicht vorhersagen“, antwortete Brunet. „Das ist Science-Fiction, nicht Wissenschaft.“

Für die Konferenz hatte sich die Einstein-Stiftung das Radialsystem ausgesucht, ein altes umgebautes Pumpwerk gegenüber des Ostbahnhofs, das zu DDR-Zeiten im militärischen Sperrgebiet lag. Im Radialsystem treten normalerweise Tanzkompagnien und Theatergruppen auf, die experimentelle Aufführungen zeigen. Auch die Konferenz sollte „experimentell“ sein, sagte Sebastian Turner, Geschäftsführer der Einstein-Stiftung, zu Beginn. Keiner hatte für seinen Vortrag mehr als 15 Minuten Zeit, eine Uhr zeigte dem Redner an, wann Schluss ist. Er habe auch noch „weitere Instrumente“ zur Hand, Redner zum Ende zu bewegen, falls sie überziehen sollten, sagte Turner unter Gelächter des vollen Saals.

Dass das ernst gemeint war, musste als erster der Altphilologe Glenn Warren Most erfahren. Most entwarf das Bild einer globalisierten Antike, die den Blick auf das, was wir als unser europäisches Erbe betrachten, nachhaltig verändern könnte. Durch immer neue Funde und verfeinerte Untersuchungsmethoden werde klar, wie sehr die alten Griechen von Völkern außerhalb ihres Kulturkreises beeinflusst wurden. Als die Zeit knapp wurde, sprach Most immer schneller. Doch es half nichts. Ein eigens engagierte junger Mann kam auf die Bühne, und rollte einen kleinen roten Teppich aus: Als Zeichen, dass Most doch endlich das Rednerpult verlassen solle. Das Publikum lachte, Most auch – und kam in zwei schnellen Sätzen zum Ende.

Eine kleine Mauer aus Zuckertüten hatte der Chemiker Peter Seeberger vom Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam aufgebaut. „Mit diesem Zucker kann man drei Millionen Kinder das Leben retten“, behauptete Seeberger und blieb die Begründung nicht lange schuldig. „Zucker“ steht in der Chemie nicht nur für das süße Nahrungsmittel, den Grundstoff von Schaumküssen, Schokolade und Marzipanbroten. Sondern auch für verzweigte und komplizierte Ketten von Kohlenhydraten. Die Zuckerketten lassen Zellen kommunizieren, sind die Grundlage der Blutgruppen und ermöglichen es der Körperabwehr, Krankheitskeime zu erkennen.

Krankheitserreger verraten sich durch ihre Kohlenhydrate. Seeberger baut diese Moleküle mit einer neuartigen, von ihm selbst entwickelten Maschine nach. Statt früher Monate braucht es heute nur noch Stunden, um vertrackte Zuckerketten zusammenzubauen. Fast ein Dutzend Impfstoffkandidaten hat Seeberger zusammen. Mit Abstand am wichtigsten ist der Malaria-Impfstoff, der von 2010 an getestet werden soll. Aus 4,5 Kilogramm Zucker – knapp fünf Tüten – kann man Impfstoff für 65 Millionen Menschen herstellen, hat Seeberger berechnet. Und, vielleicht, Millionen das Leben retten. In Afrika stirbt alle 30 Sekunden ein Kind an Malaria.

„Damals, als die Mauer fiel, habe ich auch eine kleine Mauer durchbrochen“, erinnerte sich der Hirnforscher Miguel Nicolelis von der Duke-Universität in North Carolina. „Ich habe erstmals gleichzeitig die elektrische Aktivität von 100 Nervenzellen gemessen.“ Nicolelis’ Ziel ist es, „das Gehirn vom Körper zu befreien“ und zum Beispiel Gelähmten wieder die Möglichkeit zu geben, zu laufen. Etwa über Elektroden, die vom Gehirn zu künstlichen Gliedmaßen führen. Ansätze dafür gibt es bereits, wie Nicolelis verdeutlichte. Aber die Mauer ist noch ziemlich hoch.

Die einzige, für die die Zeitbeschränkung nicht galt, war Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie erzählte von „ihrem“ 9. November 1989. Merkel war damals Physikerin an der Akademie der Wissenschaften. Am Abend sei sie am Übergang Bornholmer Straße gewesen – und „gleich mal rübergegangen“. Allerdings habe sie nicht die ganze Nacht am Ku’damm verbracht, sondern sei nur kurz dort gewesen. „Schließlich musste ich am nächsten Morgen in meinem Labor in Adlershof stehen, da sollte mir nicht der Kopf auf den Tisch fallen.“

Merkel, die sich zu ihrer „Liebe für die Wissenschaft“ bekannte, forderte die Forscher auf, „Vorbilder“ zu sein. Sie könnten helfen, die „ganz großen Mauern des 21. Jahrhunderts“ einzureißen. Etwa, das Verständnis für andere Kulturen zu vergrößern und so dazu beizutragen, dass Nationalstaaten sich trauen würden, mehr Kompetenzen an globale Institutionen abzugeben. Am Ende gab es Standing Ovations für die Kanzlerin.

Wissenschaft, das zeigte die „Falling walls“-Konferenz, kann durchaus zum Ereignis werden. Für die Teilnehmer war es ein lohnenswerter Blick in den Elfenbeinturm, für die Einstein-Stiftung ein gelungener Auftakt.

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