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Hinderlich. Wer zu den zehn Prozent der Bevölkerung mit Lese-Rechtschreib-Schwäche gehört, hat es im Alltag schwer. Foto: imago

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Dyslexie: Datenstau vorm Sprachzentrum

Bei Dyslexie, der Lese-Rechtschreib-Schwäche, sind zwei Hirnregionen schlecht verdrahtet. Während normale Leser über eine Datenautobahn verfügen, können Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche lediglich auf einen Trampelpfad zurückgreifen.

Sie hangeln sich mühsam von Wort zu Wort, geraten ins Stocken, verlieren die Zeile, fügen Silben hinzu. Auch beim Schreiben ist es für etwa zehn Prozent der Bevölkerung wie verhext. Obwohl sie keinesfalls dumm sind, verwechseln sie ähnlich aussehende Buchstaben und können die kleinsten Einheiten der gesprochenen und geschriebenen Sprache (Phonem und Graphem – also Laute und die entsprechende Buchstabenfolge) einander nur schwer zuordnen. Mitunter machen sie bei ein und demselben Wort immer wieder andere Fehler. Grammatik und Zeichensetzung geraten ebenfalls durcheinander.

Wie diese Lese-Rechtschreib-Schwäche entsteht, ist umstritten. Die Wahrnehmung funktioniert nicht richtig, sagen die einen. Das Hörzentrum im Hirn unterscheide nicht genau genug zwischen den Lauteinheiten. Das wirke sich zwar nicht unbedingt auf das Sprechen aus. Beim Lesen und Schreiben offenbare sich jedoch ein Dominoeffekt. Die andere Fraktion meint, dass die Information über das Gehörte im Gehirn präzise abgebildet wird. Beeinträchtigt sei die weitere Verarbeitung der Sprache, weil der Zugang zu diesen Informationen gestört ist.

Bart Boets von der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der belgischen KU Leuven und seine Kollegen stützen nun die zweite These. Wie die Neurowissenschaftler im Fachblatt „Science“ berichten, baten sie 23 Erwachsene mit schwerer Lese-Rechtschreib-Schwäche und 22 normale Leser in einen Hirnscanner. Dort spielten sie ihnen verschiedene Lauteinheiten wie „babababa“ oder „dadadada“ vor. Das unerwartete Ergebnis: Beide Gruppen konnten gleich gut identifizieren, was sich jeweils geändert hatte. Die Teile des Hörzentrums, die durch die Lauteinheiten aktiviert wurden, unterschieden sich ebenfalls nicht. Die Phoneme hinterließen eine Art Fingerabdruck, der auch bei den Versuchspersonen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche nicht verwischt war. „Das Abbild war intakt“, sagt Boets. Allerdings brauchten sie 50 Prozent länger für ihre Antwort.

Ein Verfahren zeigt, wie sich die für die Sprache zuständigen Hirnzentren verbinden

Also doch eine falsche Verdrahtung, vermuteten die Neurowissenschaftler. Im zweiten Teil des Experiments nutzten sie deshalb eine andere Technik: die Diffusions-Tensor-Bildgebung. Sie macht die Wanderung von Wassermolekülen im Gehirn sichtbar. Da sich Hirnwasser vor allem entlang der Nervenbahnen bewegt, konnten Boets und seine Kollegen anhand der Molekülwanderung die Vernetzung von 13 für Sprache wichtigen Hirnregionen erkennen.

Auffällig war bei den Erwachsenen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche vor allem die Verbindung zwischen dem Hörzentrum und Broca-Areal, schreiben die Forscher. Dieses wohl bekannteste Sprachzentrum des Gehirns ist unter anderem für das Weiterverarbeiten des Gehörten zuständig. Während die beiden Hirnregionen bei normalen Lesern eine wahre Datenautobahn verband, konnten die Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche lediglich auf einen Trampelpfad zurückgreifen. Je holpriger dieser war, desto langsamer hatten die Probanden im ersten Teil des Experiments die Fragen beantwortet. Außerdem konnten sie schlechter lesen und buchstabieren. „Man kann es mit einem Computernetzwerk vergleichen“, sagt Boets. „Die Information liegt auf dem Server. Aber die Verbindung ist langsam und bricht ab und an zusammen.“ Sein Team will nun Trainingsmethoden entwickeln, die den Datenstau zumindest teilweise beheben.

Vor allem der Abgleich von Phonemen und Graphemen sei beeinträchtigt, sagt Pol Ghesquière von der KU Leuven. Ab wann die Verdrahtung nicht mehr ausgebaut wird, sei aber noch unklar. Dazu müsse man auch Kinder untersuchen.

Wie wichtig Schnelligkeit für müheloses Lesen ist, betont unter anderem Maryanne Wolf, Direktorin des Zentrums für Lese- und Sprachforschung an der Tufts-Universität in Boston. Gerade mal 500 Millisekunden Zeit lässt uns das Arbeitsgedächtnis pro Wort. Leseexperten gleichen innerhalb von 300 Millisekunden eine riesige Menge von Seh- und Höreindrücken, von Bedeutungen und abstrakten Konzepten miteinander ab. Das Wort ist dann entziffert und verstanden. Wertvolle 100 bis 200 Millisekunden bleiben anschließend dafür, die Gedanken beim Lesen eines Textes schweifen zu lassen, eigene Interpretationen und Vergleiche zu finden. Für Aha-Erlebnisse, ohne die das Lesen ein passives Konsumieren wäre. Zeit, die Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche fehlt.

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