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Weltbild aus dem Computer. Das Bild zeigt eine rechnergestützte Simulation der Entstehung des Universums.

© picture-alliance/dpa

Ein Bild vom All: Hinaussegeln auf den großen Weltozean

Die Naturwissenschaften haben die Welt in ihre Bestandteile zerlegt - kann man sie wieder zu einem Ganzen zusammenfügen? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hartmut Wewetzer

Aus gutem Grund sind Weltbilder rund. Schon im Altertum haben die Menschen sich ein buchstäblich „rundes“ Bild von der Welt als ganzer gemacht. Bei den Babyloniern überspannte ein sternenglimmerndes Firmament die flache Erde, die von einem großen Wasser umflossen war, ein in der Antike und Frühen Neuzeit beliebtes Modell. Dante etwa, der Dichter der „Göttlichen Komödie“, umgab im Geiste des antiken Astronomen Ptolemäus die Erde mit himmlischen Sphären, über denen das christliche Paradies thronte. Schalen über Schalen. Die Welt, eine gigantische Zwiebel.

Der Kosmos als Kreis und Kugel, das befriedigt ästhetisch und beruhigt zugleich. Die Idee steht für Geschlossenheit und Ordnung, für den Kreislauf der Dinge wie für zeitlose Perfektion. Heute wissen wir, dass alles doch ein wenig anders ist. Die Erde thront nicht, umspült vom Urozean, im Zentrum des Alls, sondern gleicht eher einem Sandkorn an einem Strand namens Milchstraße. Das Universum treibt auseinander und einem eher ungewissen Schicksal entgegen. Und das Wasser als chaotisches Urelement antiker Kosmologien musste der großen Leere weichen, die in modernen Kosmos-Modellen vorherrscht.

"Eine kurze Geschichte der Zeit": Viel verkauft, wenig verstanden

Haben die Naturwissenschaften also nichts übrig gelassen vom harmonischen Weltenlauf, ist die Musik überirdischer Himmelssphären endgültig verstummt? Ganz im Gegenteil. Die Wissenschaft hat die Natur zwar in ihre Bestandteile zerlegt, bis in atomare und subatomare Details. Doch mittlerweile häufen sich die Versuche, die Teile wieder zu einem großen Ganzen zusammenzufügen, zumindest gedanklich.

Den Anfang machte der Physiker Stephen Hawking 1988 mit seiner „Kurzen Geschichte der Zeit“. Dank des genialen Titels wurde das eher sperrige Werk zum Weltbestseller und Hawking zum Superstar der Wissenschaft. Viel gekauft, weniger gelesen und noch weniger verstanden.

Unter den Wissenschaftlern, die auf den Spuren Stephen Hawkings wandeln, ist der Amerikaner Sean Carroll besonders beachtenswert. Mit seinem neuen Buch „The Big Picture“ („Das große Ganze“, Untertitel: „Über den Ursprung des Lebens, den Sinn und das Universum selbst“) ist der Physiker vom California Institute of Technology in Pasadena unter die zeitgenössischen Weltbild-Bauer gegangen. Er schlägt einen Bogen von der Entstehung des Universums und den Bausteinen der Materie bis zu Willensfreiheit und Moral. Mehr geht nicht!

Atome, Zellen und Gefühle

Poetischen Naturalismus nennt Carroll seine Sicht auf die Dinge. „Naturalismus“ verweist darauf, dass es nur eine Welt gibt (die natürliche). Es gibt jedoch verschiedene Zugänge zu dieser Welt und verschiedene Möglichkeiten, Geschichten über sie zu erzählen – daher der Ausdruck „poetisch“. Bei Carroll liest sich das so: „Wir bestehen aus Atomen und Teilchen, die aneinanderstoßen und durch Naturkräfte miteinander in Kontakt treten. Zugleich sind wir Ansammlungen biologischer Zellen, die Elektrizität und Chemikalien hin und her tauschen, während sie Energie aus der Umwelt verstoffwechseln. Und wir sind drittens denkende, fühlende, sorgende Wesen, die fähig sind, ihre Handlungen zu bedenken und Entscheidungen zu treffen, was unser Verhalten angeht. Letzteres macht uns zu etwas ganz Besonderem.“

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So ganz losgekommen ist auch Carroll nicht vom altbekannten Weltmodell Zwiebelschale. Im Innersten der Zwiebel befindet sich für ihn die Quantenfeldtheorie, auch Kerntheorie genannt. Sie ermöglicht eine umfassende physikalische Beschreibung unserer irdischen Verhältnisse. „Die Gesetze der Physik, die dem alltäglichen Leben zugrunde liegen, sind vollständig bekannt“, schreibt Carroll.

Abwärts auf der Rolltreppe der Entropie

Der Entropie (Unordnung) ist eine weitere Schale zugeordnet. Sie nimmt zu und ermöglicht damit zumindest vorübergehend kosmische Vielfalt, Komplexität genannt. Auch der Mensch ist ein Produkt und ein Nutznießer zunehmender Unordnung, bevor diese in ferner Zukunft überhand nimmt und Leben unmöglich machen wird.

Je mehr wir zum Äußeren von Carrolls Welt-Zwiebel vordringen, umso weicher und weniger greifbar werden die Schalen. Bei Themen wie Bewusstsein, freier Wille, ethisches Handeln und Sinn des Lebens schwinden die nahezu absoluten Gewissheiten, die im Kernbereich herrschen. Wir verlassen den festen Grund der flachen Erde, um auf den großen Ozean hinauszusegeln. Dort draußen wird es Antworten geben. Vielleicht.

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