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Schriften der anderen. Ein FU-Projekt erforscht mittelalterliche Quellen. Foto: pa/akg

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Wissen: Entgrenzte Denkschulen

Forschungszentrum zur Geistesgeschichte in der Welt des Islam eröffnet

Vielfalt, Befruchtung, Interaktion. Bei der Eröffnung eines Berliner Forschungszentrums zur Geistesgeschichte in der Welt des Islam stand die Betonung von Gemeinsamkeiten jüdischer, christlicher und islamischer Denk-Traditionen im Vordergrund. Die Freie Universität (FU), an der das Zentrum angesiedelt ist, hatte am Dienstagabend für die Einweihung das Museum für Islamische Kunst auf der Museumsinsel gewählt. Vor der Kulisse monumentaler antiker Mauerfragmente sagte FU-Präsident Peter-André Alt, es solle nicht weniger als „eine neue, fundierte Bewertung der Ideengeschichte des Islam“ vorgenommen werden.

Das Forschungszentrum bündelt verschiedene Initiativen, die in den letzten Jahren unter der Leitung der Islamwissenschaftlerin Sabine Schmidtke entstanden sind. „Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Ideengeschichte der islamischen Welt nicht nur als islamische Geschichte, sondern religionsübergreifend als Ganzes in den Blick zu nehmen“, sagte Schmidtke. Als Direktorin des Forschungszentrums wolle sie „gerade vor dem Hintergrund der hoffnungslos erscheinenden politischen Situation im Mittleren Osten und einer Verengung der eigentlich pluralen muslimischen Ideengeschichte“ neue Akzente setzen.

Was Schmidtke und ihre Mannschaft vorhaben, könnte als doppelt-entgrenzte Islamwissenschaft bezeichnet werden. Einmal sollen islamische Denktraditionen nicht in Abgrenzung gegen andere Schulen diskutiert werden, sondern durch das Herausstellen der wechselseitigen Befruchtungen. Zum anderen arbeiten Schmidtke und ihr Team interdisziplinär; Philologen, Philosophen oder Soziologen sind Teil der „Research Unit“. „Wir erforschen nicht nur die Jahrhunderte währende intellektuelle Symbiose von Islam, Judentum und Christentum, wir spiegeln sie auch selbst wieder“, sagte Schmidtke mit Blick auf ihr internationales Kollektiv. Dass ihre Arbeit trotz Multikulturalismus und gesuchter Gemeinsamkeiten schwierig werden kann, wissen die Forscher gleichwohl selbst. Als Quellen wollen sie zumeist noch unkatalogisierte Handschriften nutzen, von denen viele in politisch instabilen Ländern wie dem Jemen lagern.

Ein Beispiel dafür, wie neue Erkenntnisse ganz praktisch das Verständnis von den Ursprüngen und damit vom Wesen des Islam verändern könnten, ist die Denkschule Mu’tazila, die zwischen dem 9. und dem 13. Jahrhundert in der islamischen Welt verbreitet war. Mu’tazila betonte den Vorrang der Vernunft vor der Irrationalität und den freien Willen. Als rationalistische Schule entstand Mu’tazila auch durch den Austausch von Gelehrten des Islam mit jenen des Christentums und des Judentums. Die Mu’tazila wird als ein früher Schritt in Richtung einer islamischen Aufklärung gesehen. Das Projekt könnte zeigen, dass Orient und Okzident mehr gemeinsam haben als sie verbindende Pipelines.

„Die Abgrenzung von islamischer und sogenannter westlicher Lehre ist leider nicht nur ein Kind unserer Zeit“, sagte Sarah Stroumsa von der Hebrew University in Jerusalem. Schon im frühen Mittelalter hätten Wissenschaftler bestritten, die jeweils anderen Schriften zu lesen. Übernahmen sie Passagen in ihre eigenen Werke, so wurde dies nicht durch Fußnoten gekennzeichnet. Die Suche nach identitätsstiftenden Gemeinsamkeiten wird dem Forschungsteam also nicht nur von der gegenwärtigen politischen Situation, sondern auch von den historischen Quellen nicht leicht gemacht. Nik Afanasjew

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