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Aus der Zeit heraus. Diltheys Erkenntnistheorie zielt auf die geschichtlichen und kulturellen Lebenskontexte. Foto: bpk/Bayerische Staatsbibliothek

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Wissen: Erleben und einfühlen

Vor 100 Jahren starb Wilhelm Dilthey, Vater der Geisteswissenschaften und hermeneutischer Vordenker

„Verstehen Sie mich?“ Der Zeigefinger tippt testend ans Mikro, weithin Nicken im Publikum. Es ist eine schöne Ironie der Geschichte, dass die Frage nach dem Verstehen im lichten Leibniz-Saal am Gendarmenmarkt so oft bemüht wurde: Hatte man sich doch auf Einladung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Humboldt-Universität eingefunden, eben jenen großen Denker zu ehren, dessen wohl wichtigstes Schlagwort „Verstehen“ lautet: Wilhelm Dilthey. Am 1. Oktober jährt sich der Todestag des Philosophen zum 100. Mal. Und so galt es in einem internationalen Symposium emphatisch zu bekräftigen, dass es sich mit Dilthey nicht nur um einen Klassiker hermeneutischen Denkens und den Begründer der Geisteswissenschaften handelt, sondern auch um eine führende Figur im Berliner Wissenschaftsbetrieb des 19. Jahrhunderts, in dessen Tradition man noch heute stehe.

Der Nachdruck, mit dem man auf die Bedeutung Diltheys und die Komplexität seines Werkes verwies, ist berechtigt, aber auch symptomatisch. Auf den Seminarplänen an den Universitäten dürfte die Dilthey-Lektüre höchst selten zu finden sein. Auf der Klaviatur popphilosophischer Diskurse erklingt er zu Beginn dieses Jahrtausends – anders als Hegel, Marx, Heidegger & Co – schon gar nicht mehr. Dilthey ist Klassiker und Geheimtipp zugleich, und so fragt sein Werk im Jahre 2011 umso dringlicher: Verstehen Sie mich – noch?

Geboren 1833 als Pfarrerssohn in Biebrich bei Wiesbaden, dann Abitur, Theologie- und Philosophiestudium, Dissertation, Habilitation. Ersten Anstellungen an diversen Universitäten folgt 1882 schließlich der Ruf an die Universität Berlin. Dilthey ist keine schillernde Figur, doch sein Wort hat Gewicht und trifft den Nerv der Zeit. Mit seinen beiden Hauptwerken – einer Biografie über „Das Leben Schleiermachers“ und der „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ – verabschiedet Dilthey nicht nur eine geistesgeschichtliche Epoche, die im Nachhall Kants und Hegels einer überkommenen Metaphysik verhaftet schien. Er präsentiert auch ein Denk- und Begriffsinstrumentarium, mit dem die Wissenschaft sich selbst neu erfinden und reflektieren konnte.

Dilthey trennt erstmals zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, indem er die Methoden unterscheidet, mit denen die jeweiligen Fachgebiete sich ihren Gegenständen nähern. Während die Naturwissenschaften Zusammenhänge lediglich beobachten und erklären, versuchen die Geisteswissenschaften sie zu verstehen. In seiner Kritik an Kant und dessen Annahme, es gebe eine Wirklichkeit ‚an sich’, zielt das Dilthey’sche Verstehen auf die geschichtlichen und kulturellen Lebenskontexte, in denen jede Erkenntnis entsteht.

Jeder Gedanke ein Kind seiner Zeit – keine Binsenweisheit, sondern Substrat eines mutigen philosophischen Entwurfes, der sich freistrampelt von universellen, metaphysischen Gewissheiten. Um die eigene Geschichtlichkeit – und damit auch: Relativität – zu verstehen, bedarf es laut Dilthey des Erlebens, Einfühlens, Nachvollziehens. Zentrale philosophische Werke des 20. Jahrhunderts sind davon nicht zu trennen. Dazu gehören vor allem Hans-Georg Gadamer und Martin Heidegger, die sich Diltheys Thesen aneigneten und kritisch weiterdachten.

Hermeneutik und Historismus, die beiden Fluchtpunkte seines Werkes, bildeten eine „schwer übersetzbare, philosophische Denkfigur des Durchdringens“, sagte HU-Präsident Jan-Hendrik Olbertz. Für heutige Fragen akademischer Programmatik zum Thema Forschung und Lehre sei der „Reichtum Diltheys kaum zu ermessen“. In der Tat wären wohl auch wissenschaftspolitische Marketingstrategien wie das „Jahr der Geisteswissenschaften“ (2007) ohne Dilthey nicht zu denken, der einem derartigen Selbstverständnis überhaupt erst ein methodologisches Fundament gelegt hat.

Doch nicht umsonst stellte Axel Horstmann, Philosophieprofessor in Hamburg und ehemaliges Mitglied der Volkswagenstiftung, in seinem Vortrag die Frage: „Wo ist Dilthey?“ Eine „Rehabilitation der Fülle dieses reflektierten Werkes“ hätte der Philosoph zwar eigentlich nicht nötig, doch gebe es ein bedauerliches „Dilthey’sches Präsenzdefizit“ in den aktuellen geisteswissenschaftlichen Debatten.

Die Rezeption Diltheys im 20. Jahrhundert gleicht einem Frontenkampf: Hier die Unterstellung, unkritisch und relativistisch zu sein, weil mit dem Verstehen der Dinge ihre Billigung einhergehe. Dort der Vorwurf, mit pseudowissenschaftlichem Verstehen und Einfühlen die Objektivität der Geisteswissenschaften zu verraten und ein Verhältnis auf Augenhöhe mit den Naturwissenschaften zu verhindern.

Nicht nur ideologische Grabenkämpfe zeichnen dafür verantwortlich, dass Dilthey „verschüttet zu gehen droht“, wie Horstmann befürchtet. Das „selbstständige Ganze“, als das Dilthey die Geisteswissenschaften aufgefasst sehen wollte, werde der heute üblichen Ausdifferenzierung in Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften einfach nicht mehr gerecht, sagte Geert Keil vom Lehrstuhl für Philosophische Anthropologie der HU, der die Vorträge moderierte. Die Fächer seien heute methodologisch heterogen und drifteten in verschiedene Richtungen, so dass es für sie schwierig sei, sich im Anschluss an Dilthey „mitgemeint zu fühlen“.

Als vielleicht plakativstes Beispiel dafür kann wohl der 1980 vom Medientheoretiker Friedrich Kittler herausgegebene Sammelband „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“ gelten. Polemisch versuchte man mit den „Programmen des Poststrukturalismus“ den Geist „und seine Krankheiten“ (Kittler) aufzumischen und einen universalen geisteswissenschaftlichen Identifikationsraum zu zersplittern. Provokanter, aber auch offensichtlicher in der Anerkenntnis der eigenen Genealogie konnte die Rebellion gegen den Vater des eigenen Faches kaum ausfallen.

Möglicherweise ist Dilthey nun einmal jener Philosoph, für den ein derartig prominentes Schattendasein Schicksal ist. Denn berühmt ist er nicht zuletzt in der Editionsphilologie, einer wissenschaftlichen Disziplin, die des eigenen Zurücktretens bedarf. 1894 gelang es Dilthey, an der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften eine umfassende Historisch-Kritische Ausgabe der Werke Immanuel Kants zu initiieren, die ab 1900 erschien. Auch die Publikation der Schriften Leibniz’ geht auf das Konto Diltheys. Seit 2002 nun ist eine Neuausgabe der Werke Kants auf dem heutigen Niveau der Editionswissenschaften in Arbeit. Dieses im besten Sinne geisteswissenschaftliche Großprojekt von BBAW und der Potsdamer Kant-Arbeitsstelle engagiert sich ebenso wie die Dilthey-Forschungsstelle in Bochum mit langjähriger Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft für eine Fortführung des Dilthey’schen Werkes.

Es sei ihm ein „unerträglicher Zustand“, Dinge und Handschriften verloren zu geben, schrieb Dilthey einmal in einem Aufsatz über „Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie“. Aus diesen Zeilen spricht die Melancholie der eigenen Geschichtlichkeit, weswegen gelten mögen: Archivieren, Lesen, Verstehen, diese drei. Lang lebe Dilthey.

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