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Evolution: Rätselhafte Rillen

Worin besteht der Nutzen der gerillten Fingerkuppen, mit denen die Evolution den Menschen irgendwann ausgerüstet hat?

Zuerst trat das tschechische Universalgenie Johann Evangelista Purkinje auf den Plan. 1823 gab er bekannt, entdeckt zu haben, dass sich die Papillarlinien auf den menschlichen Fingerkuppen in verschiedene Grundtypen einteilen lassen. Einige Jahrzehnte später entwickelte Francis Galton auf dieser Grundlage ein bis in die letzten Details ausgefeiltes Klassifikationssystem für Fingerabdrücke und wies nach, dass es sich bei jedem Menschen um eine einzigartige Kombination universeller Merkmale handelt.

Doch worin besteht der Nutzen der gerillten Fingerkuppen, mit denen die Evolution den Menschen irgendwann ausgerüstet hat? Nach der herkömmlichen Theorie, die vor 100 Jahren aufkam, ist die Sache klar: Die Rillen an den Fingerspitzen dienen dazu, Gegenstände besser ergreifen und festhalten zu können. Angeblich erhöhen sie die Reibung und damit die Haftung zwischen der Haut und der Oberfläche eines Gegenstands. Die Theorie kann sich darauf berufen, dass die anderen Primaten ebenso über Fingerrillen verfügen wie die Koalas, die auf das Klettern in den Bäumen spezialisiert sind – und dass einige südamerikanische Affenarten Furchen an ihrem Schwanz haben, den sie zum Kraxeln einsetzen.

Die Theorie fußt auf der Annahme, dass sich die menschliche Haut wie ein Feststoff verhält. Wenn das der Fall ist, hängt die Reibung in erster Linie von der Kraft ab, mit der ein Objekt gegriffen wird. Doch diese Hypothese stimmt offensichtlich nicht, schreiben jetzt die britischen Biologen Roland Ennos und Peter Warman von der Universität Manchester im Fachblatt „Journal of Experimental Biology“ (Band 212, Seite 2016).

Um zu testen, was es mit den Rillen auf sich hat, ließ Ennos seinen Assistenten Warman die Finger seiner rechten Hand mit allmählich steigendem Druck und in unterschiedlichen Winkeln gegen Plättchen aus Acrylglas pressen. Mit Hilfe einer eigens dafür konstruierten Maschine wurde währenddessen die jeweilige Reibung gemessen. Bei diesem Experiment kam etwas Unerwartetes zu Tage: Die Stärke der Reibung entsprach nicht der aufgewendeten Kraft, sondern der Größe des Kontaktbereichs zwischen der Oberfläche der Fingerkuppen und der des Objekts. Doch da bei einer gerillten Fingerspitze die Kontakfläche um ein Drittel geringer ist als bei einer völlig glatten, können die Rillen nicht die Funktion haben, die Reibung zu verstärken. Die Wissenschaftler schließen daraus, dass die menschliche Haut hinsichtlich ihrer Reibungseigenschaften einem Material wie Gummi am ähnlichsten ist.

Nach Ansicht von Ennos und Warman sind gerillte Finger zwar für glatte Oberflächen nur schlecht, für raue Oberflächen wie Baumrinde hingegen umso besser geeignet. Die Wissenschaftler betonen allerdings, dass es noch weitere, nicht weniger schlüssige Erklärungen gibt. So könnten die Rillen dazu da sein, das Festhalten von feuchten Gegenständen zu erleichtern, indem sie das Wasser wie am Profil eines Reifens abfließen lassen. Oder die Rillen sollen verhindern, dass die Finger sich an etwas festsaugen oder daran festkleben. Außerdem könnten die Rillen auch dazu dienen, seitlich einwirkende Kräfte aufzufangen und dadurch die Bildung von Blasen zu erschweren. Oder aber die Rillen sollen die Haut elastischer machen und dabei helfen, sich zu dehnen und zu verformen.

Schließlich gibt es noch die Hypothese, dass der Zweck gerillter Fingerspitzen darin besteht, subtilere Tastempfindungen hervorzubringen. An dieser Vermutung bemängelt Ennos aber, dass auch solche Partien der Handfläche und der Fußsohle gerillt sind, die mit dem Ertasten feinster Unebenheiten wenig zu tun haben.

Und so ist nach wie vor nicht völlig geklärt, warum die Evolution die Fingerrillen erfunden hat. Frank Ufen

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