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Das wird einmal ein Mensch. So stellt sich ein Künstler den Urahn der höheren Säugetiere vor. Er soll vor 65 Millionen Jahren gelebt haben und zwischen 6 und 245 Gramm schwer gewesen sein.

© Abb.: Carl Buell/Science

Evolution: Uroma trug Pelz und jagte Insekten

Ein Vierbeiner, der gut klettern konnte, ist der Urahn aller höheren Säugetiere, zu denen auch der Mensch gehört. Ein internationales Forscherteam hat das Tier jetzt unter anderem anhand genetischer Untersuchungen rekonstruiert.

Vier Beine, etwa so groß wie eine Ratte, überall Haare und 44 Zähne, die darauf spezialisiert waren, Insekten für den kleinen Magen vorzubereiten. So hat vermutlich der Urahn des Menschen ausgesehen, der vor 65 Millionen Jahren über die Erde huschte. Diese Beschreibung ist das Ergebnis einer umfassenden Analyse lebender und ausgestorbener Säugetiere sowie genetischer Informationen, die jetzt ein internationales Forscherteam im Fachblatt „Science“ vorstellt (Band 339, Seite 662). Demnach begann die Entwicklung der höheren Säugetiere erst nach dem Aussterben der Dinosaurier und nicht früher, wie manche Studien behaupten.

Seit Jahren streiten Wissenschaftler über den Ursprung der höheren Säugetiere, zuweilen auch als Plazentatiere bezeichnet. Sie bilden heute die mit Abstand artenreichste Gruppe innerhalb der Säugetiere. Kloakentiere wie der Ameisenigel sowie Beutelsäuger, zu denen Koalas und Kängurus gehören, spielen nur eine Nebenrolle. Umso vielfältiger ist das Bild, das der Clan der Plazentatiere nach Jahrmillionen der Evolution abgibt: von der 1,5 Gramm leichten, fliegenden Schweinsnasenfledermaus bis zum 200 Tonnen schweren Blauwal, der im Wasser lebt, vom gemütlich erscheinenden Dreifinger-Faultier bis zum modernen Menschen, der Teilchenbeschleuniger baut und dessen Ergebnisse wohl am ehesten von allen Spezies versteht.

Diese Vielfalt macht es umso komplizierter, die gemeinsame Herkunft zu entschlüsseln. Um einen Stammbaum zu erstellen, gibt es zwei wesentliche Informationsquellen, die Wissenschaftler nutzen können. Zum einen analysieren sie Aussehen und Verhalten lebender Tiere und vergleichen das mit der Gestalt von Fossilien, um sich dem Ursprung zu nähern. Die andere Methode sind genetische Untersuchungen, bei denen Veränderungen des Erbguts studiert und zu einem mutmaßlichen Ursprung zurückverfolgt werden.

Beide Verfahren müssen mit großen Informationslücken klarkommen. Es sei also kein Wunder, dass beide Methoden für die höheren Säugetiere sehr unterschiedliche Resultate ergeben, heben die Forscher hervor, die sich nun erneut daran gemacht haben, einen Stammbaum der Plazentatiere zu zeichnen.

"Nagetiere und Primaten lebten nicht gleichzeitig mit Dinosauriern"

Maureen O’Leary von der Universität Stony Brook in New York und ihre Kollegen zogen 46 lebende Tierarten und 40 fossile heran. Mehr als 4500 Merkmale trugen sie zusammen, von der Art der Behaarung über die Gestalt der Zähne, dem Vorhandensein bestimmter Knochen bis hin zu markanten Gehirnstrukturen. Nach ihren Angaben ist dieser Datensatz zehnmal größer als alles, was bislang für das Entwicklungspuzzle der Säugetiere herangezogen wurde. Außerdem kombinierte das Team die physischen Merkmale mit verfügbaren genetischen Daten.

Demnach verzweigte sich der Stammbaum der Plazentatiere nach dem Massenaussterben am Ende der Kreidezeit vor 66 Millionen Jahren. Das ist wesentlich später als reine Erbgutstudien nahelegen. Sie besagen, dass es bereits vor bis zu 100 Millionen Jahren höhere Säugetiere gab und diese noch in der Kreidezeit mindestens 29 verschiedene Gruppen bildeten.

Dem widersprechen O’Leary und ihr Team. „Nagetiere und Primaten lebten nicht zur selben Zeit wie die flugunfähigen Dinosaurier.“ Vielmehr entwickelten sie sich wenige hunderttausend Jahre nach dem katastrophalen Massenexitus aus einem kleinen Vierbeiner, der letztlich auch der Vorfahr des Menschen ist.

Wie dieser ausgesehen haben könnte, rekonstruierten die Forscher anhand prägnanter Merkmale, die mutmaßlich am unteren Ende des Stammbaums vorhanden sind. Der hypothetische Vorfahr wog demnach zwischen 6 und 245 Gramm, fraß Insekten und konnte recht gut klettern. Die Weibchen brachten jeweils einzelne, unbehaarte Jungtiere zur Welt, deren Augen zunächst geschlossen waren.

Alsbald entwickelte sich aus der Spezies des Urahns eine Fülle verschiedener Arten, zeigt die aktuelle Analyse. Sie unterstützt damit das „Explosiv-Modell“, wonach die höheren Säugetiere rasch zahlreiche ökologische Nischen besetzten, die durch das Massenaussterben frei geworden waren.

Die Studie birgt noch eine weitere Überraschung. Die Gruppe der „Afrotheria“ genannten Säugetiere, zu denen Elefanten und Seekühe gehören, hat ihren Ursprung nicht auf dem namensgebenden Kontinent. Den Autoren zufolge liegen die Wurzeln in Amerika. Wie die Tiere den Weg nach Afrika fanden, ist eine der vielen Fragen, die der neue Stammbaum aufgeworfen hat.

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