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Wissen: Experiment zwischen Bühne und Labor

Gemeinsam mit Biologen der Freien Universität Berlin erkundet das English Theatre die ethischen Grenzen moderner Forschung

Der Physiker Fenwick steht am Fenster, vor seinem inneren Auge die Vision eines neuen industrialisierten Newcastle. Er fantasiert von einem wissenschaftlichen Zeitalter, in dem das Licht der Aufklärung den Sieg davongetragen haben wird: „Wir werden verstehen lernen, wie die Welt funktioniert. Elektrizität, die Sterne, die Zusammensetzung des Blutes“, versucht er seinen skeptischen Adlaten Roget zu überzeugen. „Am Ende des 20. Jahrhunderts wird jeder Mann, jede Frau mehr davon wissen, als wir je zu träumen wagten.“

Doch was der wissenschaftsgläubige Philanthrop ausmalt, der die Welt verstehen und verändern will, ist 200 Jahre später zu einem Problem geworden. An der Wende zum 21. Jahrhundert wird die Genetikerin Ellen im selben Haus über die Grenzen der Wissenschaft nachdenken: „Ich stecke in einer Krise“, beichtet sie ihrem Handwerker Phil, nachdem ihre Freundin Kate ihr einen Traumjob in einer Biotech-Firma angeboten hat, die an Ellens gendiagnostischem Wissen interessiert ist. Bei einer künstlichen Befruchtung kann sie, noch im Reagenzglas, testen, ob ein Kind später einmal krank wird. Während Ellen über einer Entscheidung brütet und Kate von den grandiosen Geschäftsaussichten schwärmt, finden Handwerker im Gemäuer des alten Hauses die Leiche einer jungen Frau, an der ein paar Teile fehlen.

Shelagh Stephensons Wissenschaftsthriller „An Experiment with an Air Pump“ handelt nicht nur von wissenschaftlichen Experimenten, mit ihm ist auch der Versuch verbunden, Wissenschaft und Kunst in eine fruchtbare Symbiose zu bringen. Günther Grosser vom English Theatre in Berlin-Kreuzberg und die Biologieprofessorin Regine Hengge von der Freien Universität haben mit dem Ensemble und Studierenden die Probe aufs Exempel gemacht. Im Rahmen eines Seminars über die sozialen Folgen von Forschung erarbeiteten die Nachwuchsbiologen den historischen Hintergrund des Stücks und die mit der Präimplantationsdiagnostik, also Gentests an Embryonen im Reagenzglas, verbundenen Probleme. Dann diskutierten sie einen Tag lang mit den Künstlern, an dessen Ende die erste szenische Lesung stand. Auch nach dem Probenbeginn blieben die Wissenschaftler mit den Theaterleuten in engem Kontakt.

Hengge hat sich vor einem Jahr mit „A Nummer“, einem Stück über menschliches Klonen, schon einmal auf dieses Experiment eingelassen. „Es geht darum, dass die Studierenden lernen, das, was sie tun, auch Laien zu vermitteln und das Theaterensemble mit dem Thema so vertraut zu machen, dass sie es auf der Bühne gut rüberbringen können.“ Mittlerweile wird das Projekt als Beispiel für gelungene Wissenschaftskommunikation von der Schering-Stiftung gefördert.

Anfangs hatte Grosser, künstlerischer Leiter am ETB, keine Vorstellung davon, wie er das Feld bespielen könnte: „Ich kannte natürlich die klassischen Wissenschaftsstücke, den Galilei von Brecht oder die Physiker. Dann begann ich im englischsprachigen Raum zu suchen und ein überraschender Kosmos tat sich auf. Dort gibt es eine lange Tradition von Wissenschaftsstücken, die bei uns völlig unbekannt ist.“ „Science Play“ nennt sich dieser hierzulande von Theaterautoren und Bühnen noch zu entdeckende Kontinent.

Im Fall der englischen Theaterautorin Shelagh Stephenson, deren Stück anknüpft an ein berühmtes Vakuumexperiment, das in einem Gemälde von Joseph Wright of Derby überliefert ist, handelt es sich um eine Mischung aus Wissenschaftskrimi, Emanzipationsdrama und Milieustück. Es spielt auf zwei Zeitebenen: Auf der einen Seite geht es um die aufgeklärte Wissenschaftlerfamilie Fenwick, die im Furor von 1799 zwischen revolutionär imprägniertem Forscherdrang und sozialen Hemmnissen lebt. Auf der anderen Seite spiegelt die moderne Paaraufstellung von 1999 die Kosten dieser Entdeckungslust: Mit umgekehrtem Vorzeichen ist nun der arbeitslose Geisteswissenschaftler Tom in die Rolle des Bedenkenträgers geschlüpft, während seine Frau Ellen als aufstrebende Lebenswissenschaftlerin die Nachfolge Fenwicks angetreten hat.

Dass Wissenschaft und Theater viel mehr miteinander zu tun haben als man gemeinhin annimmt, stellten Hengge und Grosser schon bei der ersten Kooperation fest. Im Theater gehören Proben, ständige Wiederholung zum Handwerk. Als Grosser und sein Ensemble in die Labors der FU kamen, sei ihnen klar geworden, dass auch Naturwissenschaftler Fehler machen. „Um sie zu korrigieren, müssen sie aber wissen, wohin sie gehen wollen. Dazu muss man präzise denken.“

Für Hengge wiederum öffnete die Theaterarbeit die „andere Komponente“ ihrer Tätigkeit: „Die meisten Menschen begreifen Wissenschaft als logisch, deduktiv und analytisch. Aber wenn wir Hypothesen formulieren, denken wir frei, assoziativ, also in der Art von Künstlern, wenn sie sich Geschichten ausdenken. Es ist extrem wichtig, dieses spielerische Denken gelegentlich auch in die Wissenschaft einzubringen.“

Fenwick gehört noch zu diesen Wissenschaftskünstlern, die sich gegen Sammler wie Roget und gegen Zyniker abgrenzen. 200 Jahre später haben die geschäftstüchtigen Forscher gelernt, ihr Anliegen sozial zu verbrämen: Wer kann schon etwas dagegen sagen, Krankheit auszumerzen und dennoch daran zu verdienen, wie Kate? Dass die Wissenschaft bei ihrem Aufstieg nicht nur buchstäblich ihre Leichen im Keller verbuddelte, sondern auch alles andere als wertfrei ist, macht den paradoxen Kern des Stückes aus.

Die heutige Premiere ist ausverkauft. Weitere Termine: 9. bis 11., 15. bis 19. und 22. bis 27. Februar. Die Vorstellungen am 15. und 22. Februar beginnen um 19 Uhr, anschließend diskutieren Biologin Regine Hengge und das Ensemble mit dem Publikum. Sonst Beginn um 20 Uhr. Mehr Informationen unter: www.etberlin.de

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