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Die Krise in Griechenland bringt für die Menschen viele Probleme mit sich, auch in der Gesundheitsversorgung. Doch die Säuglingssterblichkeit hat sich durch die Krise nicht, wie behauptet, erhöht.

© imago/Haytham Pictures

Falsche Fakten über die Griechenland-Krise: Die Mär der toten Babys

Durch die Finanz- und Wirtschaftskrise sterben in Griechenland mehr Säuglinge, behaupten Ökonomen in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin. Doch das ist falsch.

In einem offenen Brief hat eine Gruppe von Ökonomen um den Wirtschaftsprofessor der Paris School of Economics, Thomas Piketty die Bundeskanzlerin Angela Merkel aufgefordert, die Sparpolitik zu beenden. Garniert war der Appell, den auch der Tagesspiegel veröffentlicht hat, mit Beschreibungen der drastischen Lage der griechischen Bevölkerung. So sei die Säuglingssterblichkeit während der Krise enorm gestiegen. Eine Behauptung, die seit gut einem Jahr durch die Medien geistert. Das Problem: Sie ist falsch.

Drei bis vier von tausend Babys sterben in Griechenland

Als Säuglingssterblichkeit bezeichnet man den Anteil der Kinder, die sterben, bevor sie ein Jahr alt werden, bezogen auf 1000 Geburten. Nach Angaben der Statistik-Behörde Eurostat lag diese Zahl in Griechenland 2013 bei 3,7 und damit im Durchschnitt aller EU-Staaten. In Zypern lag sie mit 1,6 sehr niedrig, in Frankreich und den Niederlanden mit 3,6 und 3,8 leicht über beziehungsweise unter der von Griechenland. In Deutschland starben mit 3,3 Neugeborenen pro 1000 Geburten etwas weniger Säuglinge. Beim Euro-Mitglied Slowakei war die Säuglingssterblichkeit mit 5,5 etwa 1,5 Mal so hoch wie in Griechenland. Ganz vorne in dieser traurigen Statistik finden sich in Europa die Türkei und Aserbaidschan. Dort liegt die Zahl bei 10,8 und damit drei Mal so hoch wie in Griechenland. In Sierra Leone, einem der ärmsten Länder der Welt, ist die Säuglingssterblichkeit laut Weltbank noch einmal zehnfach so hoch, bei 107.

Kein Unterschied zwischen der Sterblichkeitsrate von 2005 und 2010

Der Vorwurf der Ökonomen um Piketty bezieht sich allerdings nicht auf das absolute Niveau der Säuglingssterblichkeit in Griechenland, sondern auf ihre Entwicklung. Die Sterblichkeit habe in der Krise enorm zugenommen. Doch auch diese Behauptung lässt sich nicht halten.

Die Kaltherzigkeit der Technokraten anhand toter Babys demonstrieren

Sie beruht auf einer Studie, die im Februar 2014 im medizinischen Fachjournal „The Lancet“ erschien. Dort behaupteten Forscher um Alexander Kentikelenis von der Universität Cambridge, die Säuglingssterblichkeit sei in dem Krisenland zwischen 2008 und 2010 um 43 Prozent gestiegen.

Diese Behauptung ist für sich betrachtet wahr. Allerdings blendet sie die Zahlen vor und nach diesem Zeitraum aus. So hatte Griechenland 2008 mit 2,7 sein absolutes historisches Tief bei der Säuglingssterblichkeit erreicht. 2010 stieg die Zahl auf 3,8. Das bedeutet in der Tat einen Zuwachs um mehr als 40 Prozent. Die Zahl lag damit aber 2010 genauso hoch wie 2005, also zu Vorkrisen-Zeiten. 2012 erreichte Griechenland mit 2,9 gestorbenen Säuglingen unter 1000 Neugeborenen den zweitniedrigsten Wert seiner Geschichte nach 2008. Da war die Krise bereits um zwei Jahre fortgeschritten und hatte sich weiter verschlimmert. So sehr die griechische Bevölkerung unter den Einschnitten in ihrem Gesundheitssystem also leidet: Die Säuglingssterblichkeit ist durch die Krise nicht gestiegen.

Bestätigung des eigenen Weltbilds statt Faktentreue

Heiner Flassbeck, ehemaliger Staatsekretär im Bundesfinanzministerium und Chefvolkswirt der Welthandels- und Entwicklungskonferenz Unctad ficht die Kritik an fehlender Präzision nicht an: Die steigende Säuglingssterblichkeit sei nur "ein einziges Wort in einer Aufzählung, die lediglich ausdrücken soll, dass es große humanitäre Probleme in Griechenland gibt, die niemand im Ernst bestreitet." Er selbst kenne nur die Zahl der Lancet-Studie und wisse nicht, dass "neuere Zahlen" gebe. "Wenn das so ist, werden wir diese Aussage nicht mehr machen."

Dennoch ist es erschreckend, dass sich hochrangige Forscher dazu hinreißen lassen, scheinbar erschütternde Fakten nicht zu überprüfen, bevor sie sie für ihre politische Agenda benutzen. Diese Forscher haben nicht etwa eine Aversion gegen Zahlen und Statistiken. Im Gegenteil. Sie haben ihre Karriere unter anderem einer außergewöhnlichen Fähigkeit im Umgang mit solchen abstrakten Größen zu verdanken. Im Streit um die Deutungshoheit der Griechenland-Krise erliegen aber offenbar selbst solche Fachleute einem „Confirmation bias“, einer unbewussten Neigung zur Bestätigung des eigenen Weltbildes. Und was würde sich besser eignen, die Kaltherzigkeit der Technokraten in Brüssel und Berlin zu illustrieren, als der massenhafte Tod unschuldiger Babys? Dass Wissenschaftler sich zu politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen ihres Forschungsgebiets äußern, ist nicht nur wichtig, sondern sogar notwendig. Wissen ist Macht, dieser Satz des englischen Philosophen Francis Bacon aus dem 17. Jahrhundert gilt in der „Wissensgesellschaft“ mehr denn je. Gleichzeitig bedeutet das aber: Mit großer Macht kommt auch große Verantwortung – der die Ökonomen um Piketty in ihrem offenen Brief jedoch leider nicht gerecht werden.

Philipp Hummel

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