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Biotrial

© REUTERS

Update

Fataler Medikamententest in Frankreich: Die Suche nach den Ursachen der Katastrophe

Ein Medikamententest in Frankreich endete schrecklich, ein Versuchsteilnehmer ist gestorben. Experten sind geschockt und hoffen rasch auf Klarheit.

Ein Proband ist tot, drei weitere Männer sind so schwerkrank, dass sie bleibende Hirnschäden erleiden könnten. Das ist die tragische Zwischenbilanz eines Medikamententests in Frankreich. Zwar geht es den fünf überlebenden 18- bis 49-Jährigen inzwischen etwas besser, ihr Zustand ist stabil. Doch nur einer konnte bisher nach Hause entlassen werden, teilte das Uniklinikum in Rennes am Montag mit. Drei der Versuchsteilnehmer werden von nun an in Kliniken nahe ihrer Heimatorte versorgt, einer bleibt zur Beobachtung auf der neurologischen Station des Uniklinikums in Rennes. Was genau die Männer krank gemacht hat, weiß derzeit noch niemand. Sicher ist nur eines: Es gibt einen Zusammenhang mit der Arzneimittel-Studie.

Die Firma Bial mit Sitz im portugiesischen Coronado beantragte am 26. Juni 2015, den Wirkstoff BIA 10-2474 nach den Tierversuchen erstmals am Menschen zu testen. Dabei geht es zunächst darum, ob das potenzielle Arzneimittel überhaupt vertragen wird. Am 3. Juli gab die französische Arzneimittelbehörde ANSM grünes Licht. Seitdem bekamen etwa 90 gesunde Männer das Mittel, die Dosis wurde langsam gesteigert.

Hirnscans zeigten Blutungen und abgestorbenes Gewebe

Die Versuche mit der höchsten Dosis begannen am 7. Januar in Rennes, im Testzentrum der Firma Biotrial. Die Männer sollten hier zwei Wochen bleiben, gegen eine Aufwandsentschädigung von 1900 Euro. Jeden Tag sollten sie eine Tablette schlucken, zusätzlich wurde ihnen unter anderem regelmäßig Blut abgenommen. Nur vier Tage später erkrankte der erste von ihnen schwer, am 11. Januar wurde die Studie abgebrochen. Später zeigten Hirnscans Blutungen und abgestorbenes Gewebe.

Bei dem Wirkstoff handelt es sich um ein Medikament, das Angstzustände, Bewegungsstörungen der Parkinson-Erkrankung und chronische Schmerzen lindern soll, aber möglicherweise auch Patienten mit Multipler Sklerose, Krebs oder Bluthochdruck helfen könnte. Der Hemmstoff blockiert das Enzym FAAH (Fatty Acid Amide Hydrolase), das im Gehirn Signalstoffe wie Anandamid abbaut. Sie werden als Endocannabinoide bezeichnet, weil sie über die gleichen Rezeptoren an Nervenzellen andocken wie der Cannabis-Stoff THC. Von den FAAH-Hemmern verspricht man sich eine gezielte und nebenwirkungsarme Therapie. Denn die Signalstoffe werden nur dort im Hirn angereichert und in ihrer Wirkung verstärkt, wo sie ohnehin vorhanden sind. Bei Tests ähnlicher Stoffe der amerikanischen Pharmafirma Pfizer und der britischen Valentis fielen keine Nebenwirkungen auf. Die Firmen brachen die Studien trotzdem ab. Die Mittel funktionierten nicht wie erhofft.

War es eine Fehldosierung? Oder wirkt die Substanz anders als gedacht?

Das Endocannabinoid-System gelte  weiter als vielversprechender Ansatz für neue Medikamente, sagt Jens Jordan, Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie an der Medizinischen Hochschule Hannover. „Was in Frankreich passiert ist, ist ein Albtraum. Damit hat niemand gerechnet.“ Jetzt müsse genauer untersucht werden, ob die verabreichte Substanz verunreinigt war oder es ein grundsätzliches Problem mit den Wirkstoffen aus der Gruppe der FAAH-Hemmer gebe. Oder ob die von Bial getestete Substanz nicht nur dort wirke, wo es beabsichtigt war – sondern auch an anderen Enzymen oder Molekülen im menschlichen Körper. Ein Forscher aus dem wissenschaftlichen Beratergremium der Bial Foundation vermutet hingegen eher eine Fehldosierung.

„Wir sind alle geschockt“, sagt Markus Leweke, der am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim das körpereigene Cannabinoid-System erforscht und eine Studie mit FAAH-Hemmern zur Behandlung von Schizophrenie plant. „Aber wir dürfen jetzt nicht vorschnell eine ganze Wirkstoffgruppe für dieses Desaster verantwortlich machen. Ich weiß nicht, warum aus einer Gruppe Schafe plötzlich ein Wolf hervorspringen sollte.“ Allerdings sei es schwierig, eine Substanz zu entwerfen, die wirklich nur auf einen Mechanismus im Körper zielt. Er findet es daher plausibler, dass die Substanz unvorhergesehene Wirkungen an anderer Stelle verursacht. „Ich hoffe, dass wir bald Klarheit haben.“

Lebensgefährliche Nebenwirkungen sind extrem selten

Derzeit ist weder ein FAAH-Hemmer in Deutschland zugelassen, noch wird derzeit eine Studie mit einem solchen Wirkstoff durchgeführt, teilte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm) am Dienstag mit. Die Behörde habe bislang insgesamt sieben klinische Prüfungen mit FAAH-Inhibitoren genehmigt, diese seien bereits beendet. Zu keiner dieser Tests in Deutschland seien schwere Zwischenfälle bei Patienten oder gesunden Probanden berichtet worden. Das Bfarm nehme den schweren Zwischenfall in Frankreich sehr ernst. Ob eine Änderung der derzeit gültigen Vorschriften und Standards erforderlich sein wird, sei aber derzeit noch nicht absehbar. Zunächst laufen die Ermittlungen in Frankreich.

In den mehr als 10.000 klinischen Prüfungen, die in den letzten 11 Jahren vom Bfarm genehmigt wurden, darunter mehr als 2.700 klinische Prüfungen mit mehr als 100.000 gesunden Freiwilligen, habe das Bfarm keinen einzigen schwerwiegenden Zwischenfall dieser Art und Schwere beobachtet. „Das ist ein extrem seltenes Ereignis“, sagt Bfarm-Sprecher Maik Pommer.

Das bestätigt eine Analyse, die im Juli 2015 im Fachblatt „British Medical Journal“ erschienen ist. Ein Team um Ezekiel Emanuel von der Universität von Pennsylvania hat fast 400 Phase-1-Studien mit etwa 11 000 gesunden Probanden ausgewertet. Rund zwei Drittel der Versuchsteilnehmer berichteten von Nebenwirkungen, 85 Prozent davon waren mild: Kopfschmerzen, Übelkeit, Durchfall, Schwindel. Weit weniger als ein Prozent wurde als „schwer“ eingestuft und nur in elf Fällen war die Prüfsubstanz verantwortlich. Die Probanden schwebten nie in Lebensgefahr.

Der Fall Tegenro

Dass dieses Risiko besteht, zeigte jedoch der Zwischenfall mit dem Antikörper TGN1412 der Würzburger Firma Tegenero. Sechs gesunde junge Männer bekamen im Januar 2006 den Antikörper im Londoner Northwick Park Hospital gespritzt. Kurz darauf brach einer nach dem anderen zusammen. Entsetzliche Schmerzen, Kollaps, Organversagen. Ihr Immunsystem war explodiert und hatte sich gegen den eigenen Körper gewendet. Sie überlebten – gerade so. Einem Mann mussten Zehen und Fingerkuppen amputiert werden, ein anderer klagte über Gedächtnisverlust. Ein weiterer erkrankte an Lymphdrüsenkrebs und lastete das Tegenero an. Die Firma ging pleite.

Seitdem wurden die Regeln für Arzneimitteltests erneut verschärft. Hochrisikoprodukte sollen zum Beispiel möglichst nicht als Infusion gegeben werden. Als Anfangsdosis gilt jene, bei der gerade noch eine Wirkung erwartet wird. Und die Probanden sollten das jeweilige Mittel nicht gleichzeitig, sondern einer nach dem andern bekommen. „Aber ein Restrisiko bleibt“, sagt Leweke. „Man kann nicht alles vorhersagen.“

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