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Wissen: Fest der Vernunft

Tagesspiegel-Mitarbeiter empfehlen Wissenschaftsbücher. Zum Verschenken oder zum Selberlesen

CHAMÄLEON IM KOPF

Man muss nicht Schauspieler oder Rheinländer sein, um sich hin und wieder ein Kostüm überzustreifen. Wir alle haben offenbar eine angeborene Fähigkeit, unsere Mitmenschen nachzuahmen, ein Chamäleon im Kopf gewissermaßen.Der italienische Neurowissenschaftler Marco Iacoboni sieht darin sogar den Kitt, der die menschliche Gesellschaft zusammenhält. Iacoboni erforscht Spiegelneuronen, Nervenzellen, die nicht nur dann aktiv sind, wenn wir selbst eine Bewegung ausführen, sondern auch dann, wenn wir jemanden sehen, der dies tut. In seinem Buch „Woher wir wissen, was andere denken und fühlen“ spürt Iacoboni dem Einfluss dieser Zellen nach und findet sie bei Sprache, Gewalt, Autismus, Werbung und in der Politik. Sein Fazit: Unser Alltag ist ein komplexes Menuett der gegenseitigen Imitation, das wir nur dank unserer Spiegelneuronen glatt über die Bühne bringen. kkp

DAS OPTIMIERTE GEHIRN

Wer zum Fest auch schwere Kost vertragen kann, findet Nahrhaftes bei Thomas Metzinger. Der Professor für Theoretische Philosophie der Uni Mainz und Fellow des Berliner Wissenschaftskollegs ist einer der Wenigen seines Fachs, die die moderne Hirnforschung wirklich zur Kenntnis nehmen. In „Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst“ zeigt er, wie unser Gehirn unser „Selbst“ erzeugt. Je besser wir dessen Hardware und dessen neurochemische Mechanismen kennen, desto besser sind theoretisch auch die Chancen, das Ego zu optimieren, zum Beispiel mit Medikamenten und Drogen. „Cognitive Enhancement“, Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit, ist das aktuelle Stichwort. Metzinger fragt aber auch, wie es denn wäre, wenn wir eines Tages die moralische Leistungsfähigkeit unserer Gehirne verbessern könnten. Was wäre gegen eine Gesellschaft ohne Steuerbetrug und Kindesmisshandlungen einzuwenden? Anders gefragt: „Warum sollten wir neurophänomenologische Leistungsverweigerer sein?“ Ziemlich abgefahrene, aber auch anregende Fragen. Antworten darf der Leser aber (noch) nicht erwarten. aml

EIN SPEKTAKEL NAMENS EVOLUTION 

Richard Dawkins ist zurück. Nachdem er mit seinem „Gotteswahn“ einen Weltbestseller geschrieben hatte und zum ebenso gefeierten wie bekämpften Wortführer der „neuen Atheisten“ wurde, hat der Biologe sich wieder seinem Hauptthema zugewandt. „The Greatest Show on Earth“ ist pünktlich zum Darwin-Jahr ein flammendes Plädoyer für die Evolutionstheorie. Showmaster Dawkins verbindet den Blick für die Schönheit des Diesseits mit der Tiefe wissenschaftlicher Erkenntnis. In klarer und schnörkelloser, dabei stets anschaulicher Sprache und gewürzt mit britischem Humor präsentiert der emeritierte Oxford-Professor eine überwältigende Fülle an Beweisen für die Evolution. Dawkins klettert mit dem Leser auf Stammbäume, gräbt in Fossilien-Lagerstätten, reist zurück ins Erdaltertum und gründelt in einem virtuellen U-Boot am mittelatlantischen Rücken. Viele Abbildungen, Grafiken und Farbtafeln vervollständigen das Buch und machen seine Botschaft noch überzeugender. Ein echter Härtetest für Kreationisten – leider noch nicht in deutscher Übersetzung. wez

NOCH MEHR GLÜCK

„Der Mensch ist robuster, als er manchmal selbst glaubt.“ Das ist doch eine wirklich frohe Botschaft – noch dazu, wenn sie von einem Psychiatrieprofessor kommt. Was Hans Förstl vom Münchner Klinikum rechts der Isar und die Journalistin Helwi Braunmiller in ihrem schmalen Taschenbüchlein „Glück, was ist das?“ an Lebenseinsichten bieten, versöhnt selbst mit der Tatsache, dass sie den inflationären Markt der Glücksbücher um ein weiteres Exemplar bereichern. Denn die beiden können gut erklären, auch die Anatomie des Gehirns und die hormonellen Zutaten, die bei der Verfertigung der Gefühle zusammenwirken. Und sie zeigen, warum es niemals bekömmlich ist, sich und andere zum Glück zu zwingen. Merke: „Glück, das gibt es nur, wenn es all die anderen Gefühle auch gibt.“ Das gilt auch an den Weihnachtsfeiertagen. aml

GEHEIME ZEICHEN

Ein Agent, der sich scheinbar unbewusst an der Nase kratzt. Oder ein wirrer Buchstabensalat, der aus dem Funkgerät dringt. Wenn Informationen ausgetauscht werden, die Dritte besser nicht erfahren sollen, werden Verschlüsselungen eingesetzt. Codes. Sie werden aber auch genutzt, wenn eine direkte Sprachübermittlung ungünstig ist: etwa bei Verkehrsschildern, Symbolen auf Landkarten oder in Form von Morsezeichen, die weite Distanzen überwinden. In dem üppig bebilderten Buch „Die Welt der Codes“ werden die unterschiedlichsten Zeichen erklärt, von Samurai-Wappen, die sich heute in japanischen Firmenlogos wiederfinden, über Symbole in Orientteppichen bis zum „Peace“-Zeichen. Das runde Signet, das so ähnlich aussieht wie ein Mercedesstern mit einem zusätzlichen senkrechten Strich im unteren Halbkreis, entstand aus den Buchstaben N und D des Winkalphabets und steht für „nuclear disarmament“ (nukleare Abrüstung). Auch wenn die Erläuterungen teilweise unter der gebotenen Komprimierung leiden, ist es eine unterhaltsame Reise durch die Welt der Zeichen. Das Nasekratzen bedeutete übrigens früher bei CIA und FBI: Achtung, die observierte Person kommt näher. nes

UNERKANNTE DOPPELGÄNGER

Leben wir in einem Multiversum? Quantenphysiker und Kosmologen spekulieren eifrig darüber, ob das beobachtbare Universum einzigartig ist oder ob es uns bisher verborgene Parallelwelten gibt, die in modernen Theorien als mögliche Lösungen physikalischer Gleichungen aufscheinen. Die Wissenschaftsjournalisten Tobias Hürter und Max Rauner haben sich deshalb zusammengetan und ein Buch über „Die verrückte Welt der Paralleluniversen“ geschrieben. Es ist eine kurzweilige Zeitreise durch unendliche Räume. Die Autoren lassen kühne Theoretiker wie Andrei Linde oder Alexander Vilenkin zu Wort kommen, die ein neues Weltbild propagieren. Aber auch Kritiker, die in einem Multiversum nichts als eine mathematische Selbstbespiegelung erkennen, frei nach Einsteins Diktum: „Mathematik ist die einzige perfekte Methode, sich selbst an der Nase herumzuführen.“ Das Buch lotet die Grenzen der modernen Physik auf amüsante und provokative Weise aus. Es lässt offen, wo Science aufhört und Fiction anfängt. tdp

Marco Iacoboni: Woher wir wissen, was andere denken und fühlen: Die neue Wissenschaft der Spiegelneuronen. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009, 320 Seiten, 21,95 Euro.

Hans Förstl,

Helwi Braunmiller:

Glück, was ist das?

Verlag Herder, Freiburg 2009, 158 Seiten, 12 Euro.

Tobias Hürter,

Max Rauner:

Die verrückte Welt der Paralleluniversen: Wo leben wir eigentlich? Und wenn ja, wie oft? Piper Verlag, München 2009, 288 Seiten, 14,95 Euro.

Richard Dawkins: The Greatest Show on Earth: The Evidence for Evolution.

Simon & Schuster, New York 2009, 470 Seiten, 13,95 Euro.

Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik.

Berlin-Verlag 2009, 384 Seiten, 26 Euro.

National Geographic (Hrsg.): Die Welt der Codes. Geheime Botschaften und ihre Entschlüsselung.

National Geographic Deutschland, Hamburg, 2009. 288 Seiten, 24,95 Euro.

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