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Fettes Essen und Bewegungsmangel: Altersdiabetes: Beigeschmack des Fortschritts

Heute leben doppelt so viele mit der Diagnose Typ-2-Diabetes wie im Jahr 2000. Fettes Essen und Trägheit haben Diabetes zur Epidemie gemacht. Vor allem bei der Vorbeugung hapert es.

Es ist paradox. Die Methoden, mit denen die Medizin diese Krankheit in den Griff zu bekommen versucht, werden immer mehr verfeinert. Wenn wir nicht aufpassen, wird sie die Menschheit trotzdem immer mehr in ihren Würgegriff nehmen. Die Rede ist vom „Alterszucker“, dem Typ-2-Diabetes, der bei einer Zuckerkrankheit in neun von zehn Fällen vorliegt. Heute leben doppelt so viele mit der Diagnose wie im Jahr 2000, weltweit 285 Millionen Menschen, die Mehrzahl in weniger reichen Ländern.

Das Fachblatt „Lancet“ nahm die Tagung der Amerikanischen Diabetes-Gesellschaft in Orlando zum Anlass, um über Erfolge in der Behandlung der Zuckerkrankheit zu berichten – und sie zugleich als Epidemie des 21. Jahrhunderts zu brandmarken. Wenn es so weitergehe, werde die Medizin den Kampf um die Blutzuckerkontrolle zwar gewinnen, den gegen Diabetes aber verlieren, kommentiert „Lancet“.

Neuerungen bei den Präparaten seien zwar willkommen, sie würden in den ärmeren Ländern dieser Erde aber kaum ankommen, wo die Seuche immer mehr um sich greife. „Eine Blamage für Public Health“, die öffentliche Gesundheitsforschung, wettert die Redaktion. Weil der Alterszucker vor allem eine Folge des sesshaften Lebensstils und der Überernährung sei, könne ein ausschließlich medizinischer Ansatz keine Lösung bringen. „Darüber hinaus entmachtet die Medikalisierung den Einzelnen und schließt Gemeinden, Schulen und Städteplaner aus, die das Potenzial hätten, die Erkrankungshäufigkeit zu verringern.“ Ein dickes Lob geht an die amerikanische First Lady Michelle Obama, die die nationale Kampagne „Let’s Move“ ins Leben rief und durch persönliche Glaubwürdigkeit stützt. Sie will vor allem Kinder zu einem gesunden Lebensstil animieren. Eine echte Aufgabe in einem Land, in dem ein Drittel aller Kinder über zwei Jahren übergewichtig und ein Sechstel aller Heranwachsenden fettleibig sind.

Dass Übergewicht das Diabetes-Risiko erhöht und dass unsportliche Erwachsene es umgekehrt schon durch regelmäßiges strammes Gehen deutlich reduzieren können, haben Studien bewiesen. Doch oft ist es schwer, das durchzuhalten. „Wir haben leider noch keine Wunderwaffe gefunden, um Diabetes zu verhindern“, bedauert Hans-Georg Joost vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam.

Schlimm am Diabetes sind vor allem seine Folgen für die Blutgefäße. Das belegt eine Auswertung der Daten von fast 700 000 Personen aus 102 Studien, die Nadeem Sarwar und Kollegen von der Uni Cambridge sich vornahmen. Sie sahen bei Diabetikern nahezu ein verdoppeltes Risiko, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. Zwar hatten viele zugleich einen hohen Blutdruck, hohe Blutfettwerte und starkes Übergewicht, doch diese bekannten Risikofaktoren reichten als Erklärung nicht. Offensichtlich richtet die Zuckerkrankheit auf anderen, eigenen Wegen Schaden an.

Die Auswertung zeigt auch, dass Menschen, deren auf nüchternen Magen gemessener Blutzuckerspiegel leicht über dem Durchschnitt liegt, sich deshalb nicht gleich Sorgen machen müssen. Bei Nicht-Diabetikern eignet sich dieser Messwert im Unterschied zum Blutdruck oder den Blutfettwerten nicht, um ihr Herz-Kreislauf-Risiko einzuschätzen.

„Es ist kaum zu entscheiden, ob ein leicht erhöhter Wert Vorzeichen eines Diabetes ist oder ob der Betreffende gesund weiterleben wird, das haben auch frühere Studien schon gezeigt“, kommentiert Joost. „Wir müssen mit einem Graubereich leben, in dem man keine genauen Aussagen machen kann.“ Letztlich gehen auch Grenzziehungen zwischen „gesund“ und „krank“ auf Vereinbarungen zurück. Der Nüchternblutzucker und der HbA1c-Test, der den durchschnittlichen Blutzucker über einen längeren Zeitraum angibt, sind deshalb in Joosts Augen nur zusammen mit anderen Faktoren geeignet, um das persönliche Risiko zu ermitteln, Diabetes zu bekommen.

Auch die neue Studie zeigt die extreme Bandbreite der Krankheit: Auf der einen Seite die massiven Gefahren, die die Stoffwechselstörung nach sich zieht, wenn sie nicht erkannt oder schlecht behandelt wird. Auf der anderen Seite übertriebene Befürchtungen wegen geringer Abweichungen vom Blutzucker-Durchschnittswert. Wer über Diabetes nachdenkt – eine Stoffwechselkrankheit, die stark vom Lebensstil beeinflusst wird –, wird heftig auf diese Diskrepanz gestoßen: Die Menschen leben immer ungesünder. Und sie leben immer gesundheitsbewusster. Es sind nur nicht dieselben.

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