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Gefährlich. Jedes Jahr verbrennen oder verbrühen sich tausende Kinder. Die meisten Unfälle passieren zu Hause, in unmittelbarer Nähe der Eltern.

© p-a/dpa

Folgenreiche Unfälle: Narben auf der Seele

Unfälle verletzen Kinder nicht nur körperlich. Eine umfassende Betreuung hilft – auch den Angehörigen. Viele Eltern fühlen sich nicht ausreichend informiert.

Der Geruch von Grillanzünder und verbranntem Fleisch ist vorerst verschwunden, die Saison ist vorbei. Zum Glück, denn abgesehen von der nicht gerade gesunden Form der Ernährung ist das Grillen gerade für Kinder gefährlich. Fast 30 000 von ihnen verbrennen oder verbrühen sich in Deutschland jedes Jahr. Neun von zehn dieser Unfälle passieren zu Hause in der Nähe der Eltern, und eine häufige Ursache sei das Grillen, sagte Dieter Kunert vom Kinderkrankenhaus Park Schönfeld in Kassel.

Brandverletzung als Trauma, das auch seelische Narben hinterlässt – das war sein Thema in der Vortragsreihe über die Psychosomatik schwerwiegender Leiden auf der Jahrestagung der Kinderärzte in Potsdam-Babelsberg. „Chronische Krankheiten und folgenreichen Unfälle können die Lebensperspektive eines Kindes ebenso negativ verändern wie Misshandlung, Missbrauch oder Tod eines Elternteils“, sagte Guido Bürk von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin.

Chronische körperliche Krankheiten sind auch seelisch belastend, können das Selbstwertgefühl stark beeinträchtigen und das Gefühl von Bedrohung und Ohnmacht hervorrufen. Das betrifft auch die Eltern. Sie müssen bei Unfällen wie Brandverletzungen außerdem noch mit ihren Schuldgefühlen zurechtkommen.

Schwere Verbrennungen und Verbrühungen sind sehr schmerzhaft und schädigen den Organismus oft ein Leben lang, etwa durch Thermoregulations- und Sensibilitätsstörungen. Viele leiden unter den psychosozialen Langzeitfolgen dieses Traumas. Vor allem Jugendliche kommen oft in existenzielle Krisen mit Suizidgefahr. Bei etwa 3000 der jährlich schwer Brandverletzten bleiben entstellende Narben zurück, viele müssen monatelang Gesichtsmasken oder Kompressionsanzüge tragen. Ob sie überleben, hängt stark von den psychosozialen Bedingungen ab.

Wie eine Rehabilitation gelingen kann, zeigte Kunert an folgendem Beispiel: Nach einem Stromunfall mussten einem Siebenjährigen beide Arme amputiert werden. Die Mutter war der Herausforderung nicht gewachsen. Er kam in ein Internat für Körperbehinderte, wo er sehr gefördert wurde; außerdem übernahm ein kinderloses Ehepaar die Patenschaft für den Jungen. Heute ist er ein sportlicher Heranwachsender, der schwimmt und skiläuft, den Führerschein gemacht hat und gerade eine kaufmännische Ausbildung absolviert. Er schreibt mit dem Mund oder den Füßen, hat zwar myoelektrische Armprothesen, braucht sie aber nicht unbedingt. „Diesem Jungen ist eine erstaunliche Anpassungsleistung gelungen“, fasste Kunert zusammen.

Anpassung ist auch von chronisch kranken Kindern und ihren Angehörigen gefordert. Hilfreich ist dabei eine verlässliche Beziehung zum Arzt und zum ganzen Behandlungsteam. Den Grund dafür legt das erste Aufklärungsgespräch mit der Eröffnung der Diagnose, sagte Kirsten Mönkemeier, die in Köln eine Station für chronische kranke Kinder leitet. „Studien haben gezeigt: Wir sind da nicht wirklich gut.“

Das demonstrierte Raimund Schmid vom Kindernetzwerk, der über das Ergebnis einer Umfrage bei 53 seiner bundesweiten Mitgliedsorganisationen berichtete. Demnach fühlen sich zwei Drittel der Eltern nicht ausreichend über die Krankheit, Entwicklungsstörung oder Behinderung ihres Kindes informiert. Sie sind sicherlich aufgeklärt worden, nur hat sich der Arzt wohl nicht vergewissert, ob sie auch alles verstanden haben.

Sie sollten „fragen, fragen und nochmals fragen“, rät Kirsten Mönkemeier den Eltern. Ihren Kollegen empfahl sie, Klartext ohne Medizinerjargon zur sprechen und zunächst zu ermitteln, was die Betroffenen bereits wissen oder zu wissen glauben. Ein kleiner Diabetiker sagte zum Beispiel: „Zucker? Das schaffe ich schon, das hat ja meine Oma auch.“ Der eher bildungsfernen Familie hat sie dann den Unterschied zwischen dem „Alterszucker“ (Diabetes II) der Großmutter und dem viel gefährlicheren Diabetes I des Enkels ausführlich erläutert.

Missverständnisse gibt es auch dann oft, wenn ein Kind mit einem Herzfehler geboren wird. Das betrifft jedes hundertste, sagte der Essener Kinderkardiologe Ulrich Neudorf. Die Eröffnung dieser Diagnose versetzt die Eltern in große Aufregung. Aber die wenigsten der angeborenen Herzfehler seien schwer, oft brauche man sie gar nicht zu behandeln. „Kleine Löchlein gehen meist von allein zu“, sagte Neudorf über den häufigsten Herzfehler, den Defekt der Herzkammerscheidewand.

Auch Krampfanfälle alarmieren die Eltern. Viele denken gleich an Epilepsie. Aber solche hirnorganisch bedingten Anfälle sind bei Kindern eher die Ausnahme, berichtete der Kinderneurologe Markus Blankenburg. Selbst Ärzte verwechselten vor allem psychogene, also seelisch bedingte, oft mit epileptischen Anfällen, weil beide Formen sich ähneln können. 80 Prozent der jungen Patienten mit psychogenen Anfällen erhielten ein antiepileptisches Mittel nach dem anderen. Ohne Erfolg.

Steht endlich die richtige Diagnose fest, darf man das nicht einfach als „nur psychisch“ vom Tisch wischen, sondern muss nach der Ursache forschen, riet Blankenburg. Welche nicht bewältigten Ereignisse stehen dahinter? Besonders in südlichen Ländern zeigten sich psychische Belastungen oft in Krampfanfällen. Sie sind in der Regel unbewusst, finden aber stets vor Publikum statt, und die Betroffenen lassen sich leicht ablenken.

Der Neuropädiater zeigte im Video eine 15-jährige Türkin, die im Anfall plötzlich lachte. Man hatte ihr einen türkischen Witz erzählt. Die Ursache ihrer psychogenen Anfälle war leicht zu ermitteln. Sie war plötzlich aus ihrer gewohnten Lebenswelt herausgerissen und (wegen des Kindergelds) ins fremde Deutschland geholt worden.

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