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Forschungspreis: Europas rivalisierende Erinnerungen

Die Konstanzer Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann erhält 750000 Euro für ihre Forschung zum kollektiven Gedächtnis.

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann will an der Universität Konstanz ein internationales Netzwerk für Gedächtnisforschung aufbauen. Mit diesem Projekt gewann sie jetzt den mit 1,5 Millionen Euro dotierten Max-Planck-Forschungspreis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und der Max-Planck-Gesellschaft. Den Preis, der traditionell an einen deutschen und einen ausländischen Wissenschaftler vergeben wird, teilt sich Aleida Assmann mit Karl Galinsky, Professor für Klassische Philologie an der University of Texas in Austin, USA. Galinsky plant an der Ruhr-Universität Bochum ein Projekt zur Gedächtnisforschung und Religionsgeschichte.

Aleida Assmann bleibt mit ihrem Vorhaben einem Forschungsschwerpunkt treu, der sie seit langem beschäftigt. Sie studierte Anglistik und Ägyptologie in Heidelberg und Tübingen. Mit ihrem Mann, dem Ägyptologen Jan Assmann, unternahm sie in den 60er und 70er Jahren Grabungen in Oberägypten. Gemeinsam wandte sich das Forscherpaar später der Gedächtnisforschung zu. Einem breiteren Publikum wurde die heute 61-jährige Assmann durch Bücher wie „Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses“ von 1999 bekannt.

Bislang stand die individuelle und kollektive Erinnerung an den Nationalsozialismus, den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg im Zentrum ihrer Arbeit. Heute sieht Assmann die Erinnerungsforschung insgesamt im Wandel. Eine neue Leitfrage sei: „Wie schafft es eine Erinnerung in den globalen Maßstab?“, sagt Assmann. Historische Traumata, die bislang marginalisiert wurden, seien kurz davor, in den Mittelpunkt zu rücken. Nach „jahrhundertelangen Latenzphasen“ drängten etwa die Kolonisierung und die Sklaverei ins kollektive Bewusstsein. Der Zeitpunkt dafür sei gekommen, wenn die kolonialen Staaten die unterdrückte Erinnerung selber anpackten, „wenn sich die Geschichte der Opfer und der Täter kreuzt“, sagt Assmann.

Die „Globalisierung der Erinnerung“ ist einer der Schwerpunkte des internationalen Netzwerks in Konstanz. Beteiligt werden unter anderem Konstanzer Psychologen, die in afrikanischen Krisenregionen mit ehemaligen Kindersoldaten arbeiten, um diese Schwersttraumatisierten zu resozialisieren. Ein weiteres Thema ist die deutsche Erinnerungsgeschichte. Neben der NS-Aufarbeitung interessiert sich Assmann für den Umgang mit der DDR-Geschichte. „Unsere historische Erinnerung muss komplexer werden“, sagt Assmann. „Es gibt sehr viele ostdeutsche Biografien, die im allgemeinen Bewusstsein schwer unterzubringen zu sind.“ Aktuell beschäftigt sie sich etwa mit einer Verfolgten des SED-Regimes, die in Marburg lebt und versucht, die dortige Öffentlichkeit für ihre Geschichte zu interessieren.

Gleichzeitig sei es überfällig, eine europäische Erinnerungsgeschichte zu schreiben. Zwar sei der Holocaust ein Gründungsmythos für Europa, aber es gebe auch „rivalisierende Erinnerungen“, erklärt Assmann. So müsse die in den baltischen Staaten überaus dynamische Beschäftigung mit der sowjetischen Okkupation in das europäische Gedächtnis integriert werden. Amory Burchard

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