zum Hauptinhalt
Istanbul

© ddp

Forschungsschwerpunkt Metropolenvergleich: Kosmopolit oder Orientbummler?

Weltbürgertum in historischer Perspektive - die Konjunktur eines Begriffs. Von Ulrike Freitag

Der Begriff des Kosmopolitismus hat in der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte der letzten anderthalb Jahrzehnte eine erstaunliche Renaissance erfahren. Dies hängt eng mit der gegenwärtigen Welle der Globalisierung zusammen. „Weltbürgertum“ gilt Soziologen wie Ulrich Beck in diesem Zusammenhang als ein Mittel, die Begrenzungen der Nationalstaatlichkeit und des Kommunitarismus zu überwinden. Dabei geht es nicht nur um eine Bejahung der kulturellen Vielfalt, noch wichtiger ist die Vernetzung weltweit aktiver Akteure.

Die neuen kosmopolitischen Weltbürger beherrschen mehrere Sprachen und kulturelle Codes, sie bewegen sich wie die Fische im Wasser der neuen, globalen Weltgesellschaft. Oft wird mit dem Begriff eine kulturelle Hybridisierung verbunden. Dies stellt ihn auf eine höhere Stufe als den – mittlerweile oft als gescheitert geltenden – Multikulturalismus, der als ein reines Nebeneinander statt ein gegenseitig befruchtendes und veränderndes Miteinander abqualifiziert wird.

Kosmopolitismus interessiert heute nicht nur Soziologen. Stadtentwickler, Wirtschaftsunternehmen und Arbeitgeber zwischen Schottland und Singapur werben damit ebenso wie Tourismusanbieter, welche Reisen zu den historischen Stätten des Kosmopolitismus anbieten, wie etwa Alexandria oder Izmir.

Die Beliebtheit dieses stark normativ und positiv besetzten Verständnisses von Kosmopolitismus, das auf Kant zurückgeht, beschränkt sich nicht auf Europa. Gerade im östlichen und südlichen Mittelmeerraum gibt es eine Welle der Nostalgie. Sie beruft sich auf das späte 19. Jahrhundert, als multiethnische Imperien die politische Landkarte dominierten. Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich, aber auch die britischen, französischen und russischen Imperien prägten die Kultur nicht nur in den von ihnen unmittelbar dominierten Städten. Städte wie Thessaloniki, Istanbul, Izmir, Beirut oder Alexandria wiesen damals eine ethnisch wie religiös vielfältige Bevölkerung auf. Kurden, Türken und Araber, Armenier, Kopten, Griechisch-Orthodoxe, sunnitische und schiitische Muslime lebten Seite an Seite.

Die türkische Stadt Mardin hat versucht, den historisch vergangenen Pluralismus mit der gegenwärtigen Konjunktur des Begriffs zu verbinden, indem sie ihn sogar zu einem der Kriterien ihrer (abgelehnten) Bewerbung um die Anerkennung als Weltkulturerbe der UNESCO gemacht hat.

Das übliche Verständnis von Kosmopolitismus betont zusätzlich zu einer pluralen, aber örtlich weitgehend stabilen Gesellschaft eine verhältnismäßig hohe Mobilität. Zuwanderer und Durchreisende auch aus kulturell fremden Gesellschaften werden temporär oder dauerhaft integriert, sie können sich in der kosmopolitisch geprägten Stadt bewegen, ohne automatisch als Fremde ausgeschlossen zu werden.

Dies ist die Grundlage für die Bewohner der saudischen Stadt Djidda am Roten Meer, ihre Stadt als eine kosmopolitische darzustellen, denn Djidda war und ist Handelsstadt zwischen Indischem Ozean und Mittelmeer sowie Einreisestation der muslimischen Pilger nach Mekka. Der Bezug auf das eigene Weltbürgertum hat dabei eine kulturelle und politische Komponente, stellt er doch eine Abgrenzung gegenüber den polemisch als eher engstirnige Beduinen dargestellten Bewohnern der Hauptstadt Riyadh dar.

Kosmopolitismus war – und ist bis heute – ein vorwiegend städtisches Phänomen. Im 19. Jahrhundert waren es vor allem die Häfen (und andere Fernhandelsstädte), welche als Begegnungsräume fungierten. Deshalb konzentriert sich das Teilprojekt „Städtevergleich – Kosmopolitismus im Mittelmeerraum und in den angrenzenden Regionen“ im Rahmen des Forschungsprogramms „Europa im Nahen Osten – der Nahe Osten in Europa“ vor allem auf die historische Stadtgeschichte sowie auf ihre modernen Deutungen.

Anders gefragt: Wie gestaltete sich das Miteinander der unterschiedlichen Gruppen in verschiedenen Orten des späten Osmanischen Reiches denn konkret? Wie wurde das Zusammenleben seitens der Staaten und Städte reguliert, welche Formen der Interaktion fanden statt und in welchen Bereichen? Welche Faktoren führten zum Ende dieses Kosmopolitismus? Wie wird heute mit diesem Erbe umgegangen, was lebt fort, und wie wird die Vergangenheit dargestellt? In dem Projekt arbeiten Fellows aus unterschiedlichen Disziplinen und Ländern mit Berliner Wissenschaftlern vom Zentrum Moderner Orient (ZMO) und anderen Einrichtungen zusammen; ihre Arbeiten werden im Folgenden exemplarisch angesprochen.

Das Gesamtziel des Projekts ist unser historisches Wissen über die spätosmanische Epoche zu erweitern und vor allem die heute oft in konkurrierenden Zusammenhängen durchgeführten Untersuchungen vergleichend wieder zusammenzuführen. Dies ist deshalb wichtig, weil die meisten Nachfolgestaaten des Osmanischen Reichs sowohl auf dem Balkan als auch in Vorderasien lange Zeit eine nationalistische Perspektive auf die Vergangenheit pflegten. Diese lehnte alles Osmanische gewissermaßen automatisch als Ausdruck eines vergangenen Imperialismus ab. Auf dieses Problem hat für den Balkan exemplarisch die aus Bulgarien stammende Historikerin Maria Todorova hingewiesen.

Selbst im Spezialfach der Osmanistik, das heißt, jener Wissenschaft, die sich mit Geschichte und Literatur des Osmanischen Reichs beschäftigt, leben die nationalen Annahmen fort. Wissenschaftler, die sich auf Südosteuropa spezialisieren, arbeiten oft getrennt von Kollegen, welche sich mit der Geschichte Anatoliens oder den ehemaligen arabischen Provinzen befassen. Diese Trennung hat nicht nur etwas mit den notwendigen Sprachkenntnissen zu tun, sie ist auch geprägt von vorhistorischen Vorstellungen und Trends, welche heutige nationalstaatliche Grenzen widerspiegeln.

So kämen Historiker Griechenlands beispielsweise häufig gar nicht erst auf die Idee, Phänomene der eigenen Geschichte aus dem 18. oder frühen 19. Jahrhundert, als das Land unter osmanischer Herrschaft stand, zu solchen aus arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs in der gleichen Zeit in Beziehung zu setzen. Viele arabische Historiker schreiben die Geschichte ihrer Länder in osmanischer Zeit ohne die Kenntnis des in arabischen Lettern geschriebenen Osmanischen und damit auch ohne die Möglichkeit des Einblicks in grundlegende Verwaltungsakten jener Zeit.

Darüber hinaus geht es in dem Projekt darum, die gegenwärtigen Verwendungen des Begriffs Kosmopolitismus kritisch zu reflektieren. Insgesamt soll das Projekt dazu beitragen, die Bedingungen und Grenzen multikulturellen Zusammenlebens in Abgrenzung zum aktuellen Modebegriff Kosmopolitismus als Phänomen mit historischer Tiefe am Beispiel des Mittelmeerraums zu erforschen und gleichzeitig den Blick für die in der gegenwärtigen Debatte häufig übergangenen Verwerfungen des Begriffs zu schärfen.

Untersucht man die Wanderungsströme in osmanischen Hafenstädten, finden sich weltgewandte Händler, Diplomaten, Aristokraten, Experten und Künstler, die implizit bei der Idee der Weltbürger Pate gestanden haben. Sie sind diejenigen, die in Form von diplomatischen Akten, Memoiren, Literatur und Bildern auch die meisten historischen Spuren hinterlassen haben. Dabei wird allerdings häufig übersehen, dass sich viele dieser Personen vor allem in relativ eng definierten Kreisen – zum Beispiel denjenigen ihrer eigenen ethnischen, nationalen, religiösen oder sozialen Gruppe – bewegten. Mit diesen trafen sie sich in Moscheen oder Kirchen, auf Märkten oder in neu gegründeten Clubs und Bildungseinrichtungen. Grenzüberschreitungen, am augenfälligsten im Fall von Eheschließungen jenseits der eigenen Gruppe, wurden häufig von allen Seiten mit erheblicher Skepsis betrachtet, die bis hin zur völligen Ausgrenzung reichen konnte.

Ebenso finden sich aber auch – und dies ist ein zwar an sich selbstverständlicher, in der Forschung bislang jedoch stark vernachlässigter Aspekt – oft ebenso polyglotte, aber wirtschaftlich und sozial unterbürgerliche Zuwanderer. Sänger, Tänzer und Prostituierte erwartet man in Hafenstädten – es ist auch nicht unbedingt verwunderlich, dass sie, ebenso wie Seeleute, räumlich mobil waren.

Wer aber hätte erwartet, dass es beispielsweise deutsche und österreichische Arbeiter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenso nach Istanbul zog wie Armenier aus dem Osten des Reichs? Malte Fuhrmann (ZMO) hat gezeigt, dass ihnen die Suche nach Arbeit und sozialem Aufstieg und die Flucht vor Armut oder Kriegen gemeinsam war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hofften deutsche Facharbeiter insbesondere im Eisenbahnwesen auf höhere Verdienste durch Auslandsverträge – immerhin spielte Deutschland beim Bau der osmanischen Eisenbahnen (man denke an die Bagdad-Bahn) eine wichtige Rolle.

Andere Migranten hingegen wurden von den westlichen Konsularbeamten eher als ein Risiko für den Ruf der Europäer eingeschätzt. Im Zusammenhang mit der Frage, ob sich die Briten für eine britisch-osmanische Gerichtsbarkeit in Djidda einsetzen sollten, schrieb der britische Konsul 1861 in einer typischen Einschätzung dieser Gruppen, die Einrichtung eines solchen Gerichts sei schon aufgrund der sozialen Zusammensetzung der Briten in der Stadt aussichtslos. Diese seien Kleinhändler oder Kneipenbesitzer, und verfügten damit weder über ausreichenden (sozialen und wirtschaftlichen) Status noch Charakter für juristische Aufgaben. Handelte es sich gar um finanziell unterversorgte abenteuerlustige „Orientbummler“, wurden sie zum Problemfall für osmanische Behörden, Auslandsgemeinden und Konsulate. Umgekehrt scheinen sie sich oft einfacher in die lokale Gesellschaft integriert zu haben, wie deutsche Konsulatsberichte über die „Entfremdung“ deutscher Migranten auf dem Balkan durch „katholische Proselyten“ zeigen.

Entgegen dem Bild des „Kranken Mannes am Bosporus“ kann man das späte 19. Jahrhundert auch als eine Periode der Zentralisierung im Osmanischen Reich beschreiben. So entstand die Vorstellung einer Staatsbürgerschaft, gekoppelt mit Versuchen, diese auf eine gemeinsame Identität zu gründen. Während im westlichen Europa Pässe zunehmend nur noch im Außenverkehr verwendet wurden, bemühten sich die osmanischen Behörden, Bewegungen sowohl eigener als auch fremder Staatsbürger zu kontrollieren und zu regulieren. Auf diese Weise sollte die „Landstreicherei“ – darunter jene durch „Orientbummler“ – unterbunden werden – aber auch unterbürgerliche Arbeitsmigranten unterlagen hiermit zumindest theoretisch neuen Regelungszwängen, die ihre Bewegungsfreiheit einschränkte.

Ein Teil dieser Bemühungen war zweifelsohne dem zunehmenden westlichen Einfluss im Osmanischen Reich geschuldet und den Versuchen, diesem entgegenzuwirken. In der Region Hedschas, in der die Heiligen Städte Mekka und Medina liegen, blieb beispielsweise der 1869 genehmigte Landerwerb durch Ausländer verboten. Sollten Muslime aus anderen Ländern, beispielsweise Indien oder Indonesien, die unter westlicher Kolonialherrschaft standen, auch als Ausländer behandelt werden? Die Antwort lautete nach langen Überlegungen „ja“, um europäischen Einfluss im Kernland des Islam schon im Ansatz zu verhindern.

Wie war die staatliche Autorität auf städtischer Ebene verankert? Nora Lafi (ZMO) untersucht anhand vergleichender Fallstudien, wie sich die städtischen Institutionen im Osmanischen Reich entwickelt haben. Dabei interessiert sie sich vor allem für die Frage, inwieweit die Einführung neuer formaler Strukturen tatsächlich einen Bruch mit älteren Praktiken darstellte. Zudem geht sie der Frage nach, wer an städtischer Verwaltung, beispielsweise den neuen Stadträten, teilhatte. Auch Maßnahmen, die nicht primär auf die städtische Verwaltung und auf die Regulierung von Mobilität ausgerichtet waren, wirkten sich auf das Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen aus.

Die Unruhen und ethnischen Ausschreitungen, die das Osmanische Reich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder erschütterten, zeigten die enormen Spannungen, die durch die internen Umwälzungen und den äußeren Druck entstanden. Der Erste Weltkrieg wurde insgesamt zur Zäsur: Hier ist nicht nur an den Völkermord an den Armeniern zu denken, sondern auch an die „Bevölkerungsaustausche“ zwischen der Türkei und den Balkanstaaten, insbesondere Griechenland und Bulgarien. Bei der Eroberung Izmirs durch türkische Truppen von griechischen Besatzungstruppen ging das Ideal des osmanischen Kosmopolitismus im wörtlichen Sinne in Rauch auf – Zehntausende verloren ihr Leben. Auch die späteren Entwicklungen, beispielsweise die „Nationalisierung“ von Volkswirtschaften, in deren Kontext der Besitz wirtschaftlicher Unternehmen durch Ausländer verboten wurde oder auch politische Konflikte, wie die Gründung Israels, beschleunigten die Auswanderung, Vertreibung oder völlige Assimilierung der vorderasiatischen Minderheiten.

Im Zeitalter des Nationalismus stand die eigene Nation im Vordergrund. Kosmopolitisch eingestellte Personen gerieten unter den Generalverdacht der Unzuverlässigkeit – „wurzelloser Kosmopolit“ wurde im Stalinismus gar ein antisemitischer Kampfbegriff. In der historischen Wahrnehmung wurde oft rückwirkend „nationalisiert“ – nicht nur die Geschichte, auch Kochkulturen wurden beispielsweise auf ihre Authentizität hin definiert. Und so finden sich in der griechischen wie in der türkischen und arabischen Küche identische Gerichte, die jeweils „authentisch“ griechisch, türkisch und arabisch sind. Zafer Yenal (Bosporus Universität; Fellow von „Europa im Nahen Osten – der Nahe Osten in Europa“ 2006/07) hat beschrieben, wie sich diese Tendenz mit dem internationalen Trend zur „nationalen“ oder ethnischen Küche deckt, während in der Türkei aufgrund der Differenzierung im Restaurantmarkt „osmanisch“ als eine von mehreren regionalen Küchen „entstanden“ ist.

Die Forschung von Özlem Biner (Fellow von „Europa im Nahen Osten – der Nahe Osten in Europa“ 2006/07; MPI für Ethnologie, Halle) zeigt am Beispiel Mardins, welche Konflikte heutige Bezüge auf Kosmopolitismus aufwerfen können. Der Streit um die „richtige“ Interpretation der Vergangenheit hat, ebenso wie die Geschichte des Kosmopolitismus als Weltbürgertum, immer wieder viele dunkle Flecken. „Biographien“ von Häusern, die mehrfach ihre Besitzer und Bewohner wechselten, zeigen die komplizierte Geschichte der Beziehungen zwischen Armeniern, orthodoxen Christen, Arabern, Kurden und nicht zuletzt Türken.

Gibt es bereits ein erstes Fazit? Der historische Befund scheint darauf hinauszulaufen, dass man im Fall des Osmanischen Reiches eher von einem imperialen laissez-faire als einer bewussten Hinwendung und Bejahung der kulturellen und ethnischen Vielfalt sprechen muss. Dies wurde durch aufkommenden Nationalismus, aber auch durch staatliche Zentralisierung bereits im späten 19. Jahrhundert zunehmend eingeschränkt und mit der Gründung von Nationalstaaten weitgehend beendet. Gleichzeitig wäre zu fragen, inwieweit nicht das heutige Beck'sche Ideal einer emphatischen Bejahung von Weltbürgertum seinerseits ein Anspruch ist, welcher die Wirklichkeit globaler Vernetzungen bei weitem überstrapaziert und sich eher an einer intellektuellen und ökonomischen Elite orientiert. Historisch jedenfalls scheint die nicht überregulierte Möglichkeit der Mobilität und des Aufenthaltes, und die damit einhergehende Flexibilität bei der Wahl kultureller und politischer Identitäten eine wesentlich größere Rolle bei der Schaffung kosmopolitischer Zentren gespielt zu haben als weltgesellschaftliche Ideale.

Die Autorin:

Ulrike Freitag (geb. 1962) ist seit 2002 Direktorin des Zentrums Moderner Orient in Berlin und Inhaberin einer Sonderprofessur am Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität Berlin. Sie studierte Geschichte, Islamwissenschaft und neuere deutsche Literaturwissenschaft in Freiburg. Sie ist Mitglied des Kollegiums des Forschungsprogramms „Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa“, in dessen Rahmen sie gemeinsam mit Dr. Nora Lafi (ZMO) das Teilprojekt „Städtevergleich – Kosmopolitismus im Mittelmeerraum und in den angrenzenden Regionen“ leitet.

Gegenwärtig arbeitet sie an dem Forschungsprojekt „Migration und die Konstituierung von Urbanität in Djidda im 19. Jahrhundert“. Tsp

Ulrike Freitag

Zur Startseite