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FREIE Sicht: Klimaerziehung ja, aber behutsam

„Energie bewegt die Welt“ lautete der Artikel eines Sachbuchs, das ich als Vierzehnjähriger geschenkt bekam. Ein Buch, dessen Botschaft überaus optimistisch war. Alle Energieprobleme der Welt würden durch Kernenergie gelöst werden können. Das ist lange her.

Heute wissen wir es besser. Eine der Antworten auf das wachsende Missverhältnis zwischen Energiebedarf und dem Ressourcenbestand heißt zu Recht, den Energieverbrauch zu reduzieren. Dafür gibt es im Alltag viele Methoden: Duschen statt Baden, Fahrradfahren statt Autofahren, Energiesparlampen statt Glühbirnen. So weit so gut.

Doch nun tritt das erzieherische Genre hinzu. Szene: Ein Zehnjähriger kommt niedergeschlagen aus der Schule. „Mein Energiefingerabdruck ist zu groß“, beichtet er. Die Mutter erfährt, was in der Schule gelernt wurde: Der „Energiefingerabdruck“ jedes Menschen kann gemessen werden. Es ist bestimmbar, wie viel Energie jeder verbraucht. Wer Auto fährt, hat der Kleine gelernt, hat einen größeren Fingerabdruck als ein Fußgänger, wer in den Urlaub fliegt, prägt diesen Abdruck noch breiter, wer ein ferngelenktes Spielzeugauto fährt, macht sich schuldig.

Die Unterrichtsstunde hatte offensichtlich Folgen. Auf dem Schulhof wurde der Junge gemobbt. Er gehörte zu denen, die einen breiten Fingerabdruck hinterlassen. Ist es gut, wenn wir eine neue Menschenklassifikation einführen nach dem Muster: Minimalverbraucher sind gute Menschen, die mit den Elektrogeräten sind böse? Plötzlich wird eine physikalische Größe zu einer Frage der Moral. Gewiss, es ist absolut richtig, Kindern (und auch Erwachsenen) beizubringen, mit Energie und Ressourcen schonend umzugehen – und das gilt nicht nur für den vordergründigen Verbrauch.

Bevor wir intensiv darüber nachgedacht haben, welche grundlegenden Veränderungen die Taxierung von Menschen nach ihrem energetischen Fingerabdruck haben kann, sollte aber vermieden werden, Kindern einen Zettel an die Stirn zu heften: „Energieverschwender.“

Es ist gut möglich, dass die Gesellschaft sich unter dem Eindruck der energetischen Ressourcenknappheit massiv wird verändern müssen. Dieses zu reflektieren ist eine Aufgabe – nicht nur der Naturwissenschaften sondern auch der Geisteswissenschaften. Nur so vermeidet unsere Gesellschaft eine ganz neue Art der einseitigen Abhängigkeit von „natürlichen“ Gegebenheiten. Große Diskussionen stehen bevor, bis eine Gesellschaft einen Konsens darüber findet, welcher Energieverbrauch als sittlich erlaubt betrachtet werden soll und welcher nicht.

Der Autor ist Erziehungswissenschaftler und schreibt jeden dritten Montag über aktuelle Themen und Debatten.

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