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Andreas Degkwitz (links) und Klaus Ceynowa.

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Gastbeitrag: Lasst uns weiter Bücher sammeln!

Wer Bibliotheken gegen das Internet ausspielt, verramscht kulturelles Erbe. Denn erst Bibliotheken bauen die Wissensspeicher auf, die auch online recherchiert werden können. Ein Gastbeitrag.

Der fehlgeleitete Anspruch, nach Prinzipien des freien Marktes agieren zu müssen, setzt Einrichtungen des kulturellen Erbes seit Jahrzehnten unter massiven Druck. Angebot und Nachfrage sollen die Finanzierung von Archiven, Bibliotheken und Museen begründen und sichern, als ob es sich dabei um Warenhäuser für Antiquitäten handelt: Lassen sich die Juwelen dann nicht mehr verkaufen, sind sie keine Juwelen mehr, sondern Erblasten, Kostentreiber oder insgesamt Schrott.

Nun ist den selbst ernannten Innovationsstrategen etwas ganz Neues eingefallen, was sie vom Vorwurf fehlender Wertschätzung kultureller Institutionen entlasten könnte: Alles ist doch im Internet – so lautet die banale Devise. Archive, Bibliotheken und Museen sollen wir also gar nicht mehr benötigen, können sie doch im Internet aufgesucht und genutzt werden.

Die Frage, wie Archive, Bibliotheken und Museen ins Internet kommen und dort verfügbar sind, bleibt dabei meistens unbeantwortet. Zugleich ist offenbar ganz egal, was genau im Internet zugänglich ist. Denn die Vermutung, dass dort „irgendwie“ schon alles greifbar sein wird, überwiegt offensichtlich, so dass diese Konsumphantasie das Schlaraffenland der Wissensgesellschaft endlich verwirklicht sieht. Vermutlich empfiehlt sich dazu der Hinweis, einmal im Internet zu recherchieren, wer diesen Überfluss an Information und Wissen konkret speist.

Publiziertes Wissen zu sammeln ist die Aufgabe von Bibliotheken

Ein gutes Beispiel dafür sind die Bibliotheken. Publiziertes Wissen zu sammeln und für kurz- und langfristige Nutzungsoptionen zur Verfügung zu stellen, ist die Aufgabe von Bibliotheken. Ihre „Marke“ ist damit die Sicherung von Nachhaltigkeit im eigentlichen Wortsinn. Mit der Digitalisierung von Büchern und Zeitschriften zu E-Books und E-Journals und mit der „Rund-um-die-Uhr“-Verfügbarkeit des Internet scheinen die Bibliotheken ihre Funktion jedoch tendenziell an Google & Co abzugeben. Dass dem nicht so ist, mag manchem Nutzer elektronischer Wissensressourcen, die von Bibliotheken beschafft, digitalisiert, lizenziert oder subskribiert werden, nicht immer unmittelbar bewusst sein. Für ihn kommt, und so soll es auch sein, Wissen wie der sprichwörtliche „Strom aus der Steckdose“.

Vor diesem Hintergrund erscheint mehr als skurril, wenn der Leiter der Bibliothek der ETH Zürich in einem kürzlich geführten NZZ-Interview äußert, in der Geschichte der Menschheit sei unglaublich viel „Mist“ geschrieben und publiziert worden, der nun in den Bibliotheken stehe; wer behaupte, dass Bücher ein Kulturschatz der Menschheit seien, liege falsch. Getoppt wird diese steile These durch die Behauptung: „Wer Inhalte sucht, braucht keine Bibliothek mehr.“

Ganz nebenbei: Die Bayerische Staatsbibliothek als große europäische Forschungsbibliothek erwirbt nach wie vor jährlich rund 130 000 Druckwerke – und würde gern, wenn der Etat es hergäbe, noch mehr beschaffen. Eine umfassende, den Geistes- und Lebenswissenschaften gleichermaßen gerecht werdende Informationsversorgung verlangt auch weiterhin die Erwerbung großer Mengen gedruckter Literatur – neben der Lizensierung oft kostspieliger elektronischer Journals und Datenbanken. Dies ist an der Bibliothek der Humboldt-Universität und an vielen weiteren wissenschaftlichen Bibliotheken nicht anders.

Inhalte im Internet sind nicht einfach irgendwie "da"

Allerdings sehen mehr und mehr Bibliotheken ihre Aufgabe eher darin, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei ihrer Arbeit mit Analyse-, Kollaborations- und Publikationswerkzeugen (Autorentools, Blogs, Data- und Textmining, Wikis etc.) zu unterstützen. Doch die Bibliothek der Humboldt-Universität und die Bayerische Staatsbibliothek haben jüngst bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft rund 7,5 Millionen Euro für den Aufbau mehrerer „Fachinformationsdienste“ eingeworben. Der größere Teil der Mittel wird für gedruckte und digitale Spezialliteratur eingesetzt. Gefördert werden soll Content – also genau das, zu dem fälschlicher Weise vermutet wird, dass sei im Internet einfach irgendwie „da“ sei.

Nicht zuletzt sei folgendes Fehlverständnis ausgeräumt: Das Internet wird deshalb als „Wissensspeicher“ empfunden, weil „Wissensspeicher“ wie Bibliotheken über das Internet recherchiert werden können. Um dabei erfolgreich zu sein, müssen die „Wissensspeicher“ allerdings etwas zu bieten haben. Ausbau und Management bibliothekarischer Sammlungen erfordern anspruchsvolle Prozesse der Akquisition, Bereitstellung, Lizenzierung und der auf Dauer gesicherten Nutzbarkeit. Insofern bereichern Bibliotheken das Internet, indem sie zur Verfügung stellen, was bei Google, Facebook und Twitter nicht oder nicht mehr zugänglich ist.

Archive, Bibliotheken und Museen werden bestohlen, kaputt gespart, durch Krieg oder Naturkatastrophen zerstört – das ist schlimm genug! Doch dass Einrichtungen des kulturellen Erbes wegen des Internets obsolet seien, solche Einschätzungen sind an Kurzsichtigkeit kaum zu übertreffen. Dass wir auf diese Weise dabei sind, uns selbst ins „Aus“ zu spielen, mehr noch uns zu verramschen, scheint von denen, die sich dazu berufen sehen, solche Szenarien „vorzudenken“, weder bemerkt noch wahrgenommen zu werden – und das ist ein Skandal!

- Klaus Ceynowa ist Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek, Andreas Degkwitz leitet als Direktor die Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin.

Andreas Degkwitz, Klaus Ceynowa

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