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Gastkommentar: Eltern in die Pflicht nehmen

Bildungsarmut kann bekämpft werden – doch allein wird die Schule das nicht schaffen. Der Staat muss mit den Familien arbeiten, ihnen Unterstützung anbieten, damit sie wieder ein verträgliches Maß an Bildungsnähe bekommen. Erfolgreiche Beispiel gibt es viele.

Fast 18 Prozent der Berliner Haushalte leben von Hartz IV, unter den Alleinerziehenden mit mehreren Kindern sind es sogar 88 Prozent. Der Anteil von „besonders schwierigen Kindern mit besonders renitenten Eltern“ steigt, hat Finanzsenator Thilo Sarrazin bei seinem Abschied festgestellt. Die Folgerungen, die Sarrazin daraus zu ziehen scheint, sind so erschreckend wie die Fakten. Offenbar geht Sarrazin davon aus, dass es nicht gelingen kann, die Entwicklung zu stoppen.

Dass wir sehr viele bildungsferne Elternhäuser quer durch alle gesellschaftlichen Gruppen und Bildungsebenen haben, ist bekannt und wird in letzter Zeit immer häufiger thematisiert. Den Schluss zu ziehen, dass es sich jetzt nicht mehr lohnt, etwas dagegen zu unternehmen, weil es zu viele sind und damit zu teuer wird, ist verantwortungslos. In letzter Konsequenz würde dies heißen, wir lassen das Problem aus dem Ruder laufen, und wenn wir bei 80 oder 90 Prozent bildungsferner Familien angekommen sind, riegeln wir den Stadtbezirk ab.

Ich vermisse schon seit Längerem den Gedanken, dass wir uns nicht mit der Bildungsferne abfinden, sondern Stück für Stück anfangen, mit diesen Familien zu arbeiten, ihnen Unterstützung anbieten, damit sie wieder ein verträgliches Maß an Bildungsnähe bekommen. Arbeit mit Eltern ist das Stichwort. Beispiele für erfolgreiche Elternarbeit gibt es reichlich.

Das kann damit beginnen, dass die Schulen Elternbetreuungslehrer bekommen, die aufsuchende Elternarbeit leisten. Wenn Erziehungsberechtigte nicht an Elternversammlungen teilnehmen, Einladungen von Lehrern, Schulleitern oder Schulaufsichtsbeamten nicht folgen, sich der Beteiligung am schulischen Leben entziehen, dann muss der Kontakt zu ihnen hergestellt werden. Ziel muss es sein, Eltern so zu unterstützen, dass sie ein Verständnis für die Bildungsnotwendigkeit ihrer Kinder entwickeln.

Hierfür gibt es vielfältige Ansatzmöglichkeiten. Man muss versuchen, Eltern, die ihren Vormittag zu Hause verbringen, zu motivieren, in der Schule in Selbsthilfegruppen ihre Erziehungsprobleme aufzuarbeiten. Sie können in den Schulalltag eingebunden werden, in der Schulcafeteria oder Mensa mitarbeiten oder die Pausenaufsicht unterstützen. Sprachbarrieren können abgebaut werden. Und das alles nicht anonym in irgendwelchen Kursen, sondern vor Ort in der Schule ihres Kindes, damit die gewünschte Bildungsnähe entstehen kann. Es könnten Themen wie Nestwärme, familiäre Nähe, Erziehungsmöglichkeiten und Erziehungsziele, Hilfe bei schulischem Fehlverhalten und andere Lösungswege beratend besprochen werden.

Dabei sollten die klassischen Vorgehensweisen abgestreift werden: Kind wird auffällig – Klassenkonferenz – Eltern werden geladen – Lehrer benennen das Fehlverhalten – den Eltern werden Vorhaltungen gemacht, bis sie sich bedrängt fühlen. Mit der Folge: Sie ignorieren in Zukunft Einladungen von Schule und Schulaufsicht. Wir haben uns viel zu wenig Gedanken darüber gemacht, warum die Beteiligung an Elternversammlungen nach dem Wechsel an die Oberschule teilweise eingestellt wird. Warum empfinden Eltern Gespräche mit Lehrern als Bedrohung? Warum nehmen sie nicht an schulischen Veranstaltungen teil und vermitteln dadurch ihren Kindern das Desinteresse an deren Entwicklung?

Wir müssen wieder zu einem breiten Miteinander von Eltern und Schule kommen. Denn eine erfolgreiche Schullaufbahn eines Kindes hängt auch in hohem Maße von der Bereitschaft und dem Sicheinbringen der Eltern ab. Wir brauchen also vielfältige Wege, um wieder mehr Bildungsnähe in diesem Land zu entwickeln. Familien müssen auf ein reichhaltiges Unterstützungsangebot zurückgreifen können. Aber immer im Kontext mit der Schule.

Allerdings muss auch gelten: Wer sich allem entzieht, wer seiner Erziehungspflicht gegenüber seinem Kind nicht nachkommt, der muss das auch zu spüren bekommen. Für zu schnelles Fahren oder für falsches Parken werden Bußgelder verhängt, es wird bestraft und auch bezahlt. Nur bei der Erziehung von Kindern sind wir großzügig. Da darf nicht in die Freiheit der Familie eingegriffen werden. Erst wenn eine Situation eskaliert ist (das Kind schon Schaden genommen hat) wird zögerlich reagiert. Natürlich wird man nicht jeden erreichen. Und Elternprogramme sind langfristig angelegt, sie führen eher mittelfristig zu messbarem Erfolg. Wann endlich reagieren die Bildungspolitiker mit Nichtakzeptanz von Bildungsferne? Bildungsnähe muss propagiert und in Angriff genommen werden.

Schauen wir nach Irland. Die Iren haben vor mehr als 15 Jahren mit einem groß angelegten Elternbetreuungsprogramm und mit mindestens zwei Elternberatungslehrern an den Brennpunktschulen die Schulverweigerung von Eltern und Kindern auf ein erträgliches Minimum reduziert. Es ist nicht zu spät, wir müssen das Problem nur anders herum begreifen. Nicht die Schule, die Lehrer oder falsche Schulstrukturen sind das eigentliche Problem. Die Eltern müssen wieder für ihre Erziehungsaufgaben fit gemacht werden. Wir haben uns angewöhnt, wenn etwas bei der kindlichen Entwicklung oder beim Erscheinungsbild von Jugendlichen in der Gesellschaft schief läuft, die Problemlösung nur von der Schule zu erwarten: Kinder zu dick – Ernährungsunterricht in der Schule. Kinder gewalttätig – Antigewaltprojekte in der Schule. Kinder übermüdet – Aufklärungsunterricht über Fernsehkonsum/Computernutzung.

In diesen und weiteren Fällen wird fast nie die Hauptverantwortung bei den Eltern gesehen, um diese in die Pflicht zu nehmen. Helfen wir den Eltern, ihre Defizite zu erkennen und aufzuarbeiten, dann helfen wir in noch größerem Maße den Kindern und werden so unserer gesellschaftlichen Verantwortung gegenüber den Heranwachsenden gerecht.

Der Autor war Leiter der Pommern-Hauptschule in Berlin-Charlottenburg.

Dieter Hohn

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