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Kaiserschnitt

© Colourbox

Geburtsmedizin: Schnitt ins Leben

Der Kaiserschnitt galt als saubere Lösung, planbar und weniger angsteinflößend. Nun schwingt das Pendel in die andere Richtung, auch zugunsten der Gesundheit des Kindes.

Ein Morgen in den 50er Jahren, Abteilung für Geburtshilfe eines Uniklinikums. Die Wehen der zierlichen Frau dauerten nun schon einen Tag und eine Nacht. Die Fruchtblase war geplatzt, doch nichts ging voran. Der Rücken des Kindes war nach vorn statt zur Seite gerichtet, ein „hoher Geradstand“. In dieser ungünstigen Lage hatte sein Köpfchen schlechte Chancen, durch das enge Becken zu passen. Der Professor, Zigarette in der Hand, teilte dem nervös auf dem Klinikflur auf und ab gehenden Kindsvater seine Entscheidung mit: Kaiserschnitt. Die vertikale Narbe, die die Operation hinterließ, war zeitlebens auf dem Bauch der Mutter sichtbar.

Ende der 70er Jahre, Abteilung für Geburtshilfe eines anderen Uniklinikums. Man wollte nicht warten, bis bei der jungen Erstgebärenden die Wehen einsetzen würden, und das womöglich an einem Wochenende. Beckenendlage, daher ein klares Votum für einen Kaiserschnitt. Damit keine Hektik aufkommen konnte, setzten die Ärzte für die Schnittentbindung einen Wochentag kurz vor dem errechneten Termin fest. Moderne Zeiten. Kaiserschnitte waren häufiger geworden, vor allem geplante. Die meisten Frauen bekamen vor dem Eingriff eine Vollnarkose, und seit Jahren war ein kleiner, unauffälliger horizontaler „Bikinischnitt“ üblich.

Vor kurzem in einer Berliner Klinik. Das gut vorbereitete Paar traf erst ein, als die Wehen stärker geworden waren, der werdende Vater unterstützte seine Freundin. Viele Stunden später war sie nicht nur völlig erschöpft, sondern auch sehr enttäuscht. Sie hatte sich eine natürliche und möglichst sanfte Geburt gewünscht. Dann wurden die Herztöne des Babys schwächer. Kaiserschnitt! Gegen die Schmerzen hatte sie sich schon vorher einen Katheter für eine rückenmarksnahe Periduralanästhesie (PDA) legen lassen. Der half nun während des Eingriffs. Die Eltern trösteten sich damit, dass ihr Baby zumindest einen Teil des normalen Geburtsvorgangs miterlebt hatte. Denn sie hatten immer wieder gehört, dass das für die kindliche Entwicklung wichtig sei. So ist die Gegenwart. Die Männer werden in die Entbindung einbezogen, die meisten Frauen erleben dank PDA bei einem Kaiserschnitt mit, wie ihre Kinder auf die Welt kommen.

Im Jahr 2012 sank erstmals die Kaiserschnittrate leicht

In der Berliner Charité wird sogar die „Kaisergeburt“ angeboten: Das blaue OP-Tuch wird etwas gesenkt, sobald der Geburtshelfer das Kind langsam aus dem Bauch holen kann. Er verharrt kurz. Durch den Druck auf die Lungen des Kindes wird überflüssiges Fruchtwasser aus den Atemwegen gedrückt, ein Arzt kann Mund und Nase auswischen. „Meist hört man dann den ersten Schrei“, sagt Wolfgang Henrich, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin. Der Vater darf die Nabelschnur durchtrennen. Während die Schichten der Wunde verschlossen werden, wird der Sichtschutz wieder aufgehängt. Das Neugeborene liegt auf dem Oberkörper seiner Mutter.

Das Drumherum der operativen Entbindung, deren Namen einige auf den römischen Herrscher Caesar, andere auf das lateinische Verb caedere (schneiden) zurückführen, ist nach und nach „natürlicher“ geworden. Gleichzeitig hat die Kaiserschnittrate sich in Deutschland seit 1991 verdoppelt. Sie liegt nun über 30 Prozent. Aber es deutet sich eine Trendwende an. Die Rate ist im Jahr 2012 erstmals leicht gesunken. Eltern und Mediziner haben begonnen, über die Folgen der Schnittentbindung für die Kinder nachzudenken. Folgen nicht nur für ihre Psyche und die ersten Momente zwischen Mutter und Kind, sondern auch für das Immunsystem.

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Zum Nachdenken darüber hat die Langzeitstudie „Babydiab“ beigetragen, die zeigte: Kinder von Müttern oder Vätern mit Zuckerkrankheit (Diabetes vom Typ 1), die per Kaiserschnitt auf die Welt kommen, haben elf Jahre später gegenüber genetisch gleich stark belasteten Altersgenossen ein doppelt so hohes Risiko, selbst zuckerkrank zu werden. Es steigt von 2,2 auf 4,8 Prozent.

Die Mutter überträgt einen Bakterienzoo auf ihr Kind

Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass die Geburtsart den Bakterienzoo des Kindes beeinflusst. So unterscheidet sich zumindest anfangs die Zusammensetzung der Keime, die sich auf der Haut, im Mund und im Darm tummeln, zwischen den Babys, die ihren Weg durch den Geburtskanal der Mutter nahmen, und denen, die nach einem kurzen Schnitt ans Licht gehoben wurden. Die Bakterien helfen den Kindern nicht nur, Nährstoffe zu verwerten, sondern sie trainieren auch das Immunsystem.

Dazu passt die Beobachtung des dänischen Epidemiologen Peter Bager, dass Kaiserschnittkinder etwas häufiger unter Allergien und Asthma leiden. Groß ist der Unterschied allerdings nicht. Seine Analyse der verfügbaren Studien schloss er mit der Einschätzung: „Der Zuwachs von Schnittentbindungen hat nicht zu der Allergie-Epidemie beigetragen, die im selben Zeitraum zu beobachten war.“

Die Vorstellung, dass die Gebärmutter steril sei, mussten Wissenschaftler ohnehin revidieren. Schon vor der Geburt werden die Kinder von den Bakterien der Mutter eingehüllt, die vaginale Entbindung erhöht die Artenvielfalt nur, schrieb kürzlich zum Beispiel ein Team um Juan Migual Rodriguez von der Complutense-Universität in Madrid im Fachmagazin „Science Translational Medicine“.

Die Schwangere wurde von der Polizei in die Klinik gebracht

Wären nur die Kaiserschnitte an den Allergien schuld, dann müssten in Brasilien inzwischen so gut wie alle Sprösslinge wohlhabender Eltern betroffen sein. Die Kaiserschnittrate in den Privatkliniken liegt dort seit Jahren bei nahezu 90 Prozent, im öffentlichen Gesundheitswesen bei 50 Prozent. Nicht immer freiwillig. Im Frühling erregte der Fall der 29-jährigen Adelir Carmen Lemos de Goes die Gemüter. Sie war zum dritten Mal schwanger, hatte ihre ersten beiden Kinder per Kaiserschnitt bekommen und wünschte sich nun eine vaginale Entbindung. Ihre Ärztin war wegen der erhöhten Risiken dagegen – und schaffte es, sie per Haftbefehl von der Polizei in die Klinik bringen zu lassen. Die Entscheidung der Mutter zählte nicht. Das ist kein Einzelfall, betonen Aktivisten.

Auch chinesische Ärzte halten den Schnitt, ebenso wie Schwangere der zweiten Ein-Kind-Generation, offensichtlich für die perfektere Lösung. Im „International Journal of Obstretrics and Gynaecology“ wiesen amerikanische Gynäkologen darauf hin, dass die Kaiserschnittrate in China mit 50 Prozent auffallend hoch ist. In vielen Ländern Asiens, darunter in Indien, diktiert außerdem der Glaube an die Macht der Sterne den Geburtstermin.

Die Debatte um den Kaiserschnitt als kundenorientierte Dienstleistung oder ärztliche Bevormundung hält an. In Deutschland sind höchstens zwei von hundert dieser Entbindungen echte „Wunschkaiserschnitte“. Das zeigte im Jahr 2006 eine Umfrage der Gmündner Ersatzkasse unter jungen Müttern. 48 Prozent der Frauen meinten, dass es die Ärzte sind, die zu schnell zum Kaiserschnitt raten. Und 86 Prozent von ihnen sagten, sie hätten die Folgen unterschätzt. Es sei ein Mythos, dass die Frauen den Anstieg der Kaiserschnittraten verursacht hätten, folgert die Bielefelder Gesundheitsforscherin Petra Kolip.

Erfahrene Teams können auch komplizierte Situationen im Kreißsaal meistern

Wolfgang Henrich von der Charité hält den Begriff „Wunschkaiserschnitt“ sogar für frauenfeindlich. „Die Frauen suchen den sichersten Weg für ihr Kind und für sich selbst.“ Was er und seine Kollegen dazu beitragen müssten, seien ausführliche Gespräche über alle Ängste und Befürchtungen, gründliche Untersuchungen und erfahrene Teams im Kreißsaal, die auch komplizierte Situationen meistern könnten.

Doch wie kann es sein, dass es in der Bundesrepublik Städte und Landkreise gibt, in denen 17 Prozent der Neubürger per Kaiserschnitt das Licht der Welt erblicken, und andere, in denen es stolze 51 Prozent sind? Warum werden im Saarland fast 36 Prozent der Babys, in Sachsen aber nur 23 Prozent per Kaiserschnitt geboren? Diese Unterschiede zeigt der „Faktencheck Kaiserschnitt“ der Bertelsmann-Stiftung (siehe Grafik). Das IGES-Institut Berlin wertete dafür sowohl frei zugängliche als auch Daten der Barmer GEK aus.

Der Faktencheck wirft zugleich die Frage auf, welche Rate angemessen ist. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat sich vor einigen Jahren auf 15 Prozent festgelegt. Sind es viel weniger, wie heute im afrikanischen Malawi, wo nach Angaben der London School of Hygiene and Tropical Medicine nur 4,5 Prozent der Babys so geboren werden, dann ist das zweifellos ein Zeichen für unzureichende medizinische Versorgung. Denn es gibt medizinisch unstrittige Fälle, etwa einen Riss der Gebärmutter, eine falsche Lage des Mutterkuchens, einen Vorfall der Nabelschnur, eine schwere Eklampsie (Schwangerschaftsvergiftung), eine Querlage des Kindes im Bauch der Mutter oder seine akut drohende Unterversorgung mit Sauerstoff, aber auch komplizierte Mehrlingsschwangerschaften oder Frühgeburten.

Die Niederlande gilt als europäisches Musterland

Wenn die Kriterien für einen Kaiserschnitt großzügiger festgelegt sind, dürften indes andere Faktoren mitspielen, von der Planbarkeit operativer Eingriffe und der Angst vor Haftungsprozessen, falls dem Kind bei einer vaginalen Geburt etwas passiert, über die Zunahme der Risikoschwangerschaften bis hin zu der Tatsache, dass Frauenärzte immer weniger Erfahrung mit komplizierten vaginalen Entbindungen haben.

Nach WHO-Kriterien sind die Niederlande mit 17 Prozent Schnittentbindungen das europäische Musterland. Doch ganz so einfach ist es nicht, zeigten Floortje Vlemmix und ihre Kollegen von der Uniklinik in Amsterdam. Bei Beckenendlagen der Kinder wird dort heute bei vier von zehn Müttern noch mit einer vaginalen Entbindung begonnen. Bei zwei von diesen vier Geburten muss dann kurzfristig, oft hektisch, umgeplant werden. Die Daten von fast 60 000 Entbindungen im Perinatal-Register zeigen, dass dieses Vorgehen die Babys gefährdet. In der Gruppe, in der vorher kein Kaiserschnitt geplant war, starben 46 Babys, in der anderen keines.

Also sicherheitshalber immer ein Kaiserschnitt, wenn das Kind im Bauch die Steißlage einnimmt? Dagegen spricht, dass die Mütter sich langsamer erholen, dreimal häufiger eine Thrombose oder eine Fruchtwasser-Embolie bekommen und noch dazu eine Hypothek auf die Zukunft aufnehmen. Bei der nächsten Schwangerschaft ist die Gefahr größer, dass die Gebärmutter reißt, eine vaginale Entbindung ist nach einem Kaiserschnitt deshalb zumindest riskanter. Selbst wenn das zweite Kind richtig liegt, steht also erneut eine Entscheidung bevor.

„Es gibt keinen risikofreien Weg“, gibt Henrich zu bedenken. In einem Land wie Deutschland, in dem heute nach Angaben des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung nur knapp fünf von 100 000 Frauen an den Folgen der Entbindung und drei von 1000 Säuglingen im Verlauf des ersten Lebensjahrs aus unterschiedlichen Gründen sterben, wird man allerdings nur sehr selten an die Gefahren erinnert.

Weitere Informationen finden Sie auf unserer Themenseite Schwangerschaft.

Der Anteil von Geburten per Kaiserschnitt schwankt in den Berliner Geburtskliniken sehr, er variiert von 14 bis 30 Prozent. Das liegt unter anderem daran, dass einige Krankenhäuser einen Wunschkaiserschnitt anbieten, andere dagegen nur bei medizinischer Notwendigkeit auf diesen Eingriff ausweichen. Die Ausgabe 2 des Magazins Tagesspiegel GESUND hat den Themenschwerpunkt Schwangerschaft und Geburt. Das Magazin bietet neben vielen Informationen auch einen Überblick darüber, welche Krankenhäuser in Berlin eine Kaiserschnittentbindung auf Wunsch vornehmen. Außerdem kommen Berliner Mediziner zu Wort, die vor einer Banalisierung der Operation warnen.

Die Geburtsausgabe Tagesspiegel GESUND  kostet 6,50 Euro und kann im Tagesspiegel Shop unter Telefon (030) 29021-520 oder im Internet http://s1.tagesspiegel.de/berlin-und-brandenburg/magazine/gesund-nr-2.html bestellt werden. Außerdem ist das Magazin im Zeitschriftenhandel erhältlich.

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