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Leserin mit Buch

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Gedanken lesen: Gute Bücher trainieren Perspektivenwechsel

Anspruchsvolle Romane helfen Lesern dabei, sich in andere hineinzuversetzen. Bereits nach etwa zehn Seiten konnten Psychologen einen Effekt messen.

Die Bücher von Robert Henlein oder Rosamunde Pilcher mögen unterhaltsam sein. Wer aber die Zwischentöne menschlichen Miteinanders besser verstehen möchte, sollte lieber zu Werken von Anton Tschechow oder Alice Munroe greifen. Nur „echte“ Literatur hilft dabei, sich in andere hineinzuversetzen, schreiben David Kidd und Emanuele Castano von der New School in New York im Fachblatt „Science“. Denn sie fordert den Geist entsprechend heraus.

Die Forscher testeten in fünf Experimenten, inwiefern ausgezeichnete Literatur, Bestseller oder Wissenschaftsreportagen beeinflussen, wie gut Erwachsene die Perspektive eines anderen Menschen einnehmen und dessen Gefühle, Bedürfnisse, Absichten und Gedankengänge interpretieren können („Theory of Mind“). Diese Fähigkeit haben Kinder ab etwa vier Jahren; sie entwickeln sie jedoch im Laufe des Lebens immer weiter.

Für jedes Experiment rekrutierten die Psychologen mehr als 70 Teilnehmer zwischen 18 und 75 Jahren. Nachdem sie etwa zehnseitige Textauszüge aus den verschiedenen Gattungen gelesen hatten, sollten sie zum Beispiel Fotos von Augenpartien deuten: Schaut der Mensch skeptisch? Verärgert? Unentschlossen? Verträumt? Andere Aufgaben prüften, ob sie den Wissensstand einer anderen Person nachvollziehen konnten. Außerdem wurde getestet, inwiefern sie der gelesene Text berührt hatte und wie viele Autorennamen sie als solche erkannten. Der Bildungsstand wurde ebenfalls erfragt.

Zwischen den Zeilen lesen

Wer Belletristik gelesen hatte, schnitt in den Tests generell etwas besser ab als diejenigen, die zum Beispiel einen Text über die Bedeutung der Kartoffel oder gar nichts vorgelegt bekamen. In den folgenden Experimenten zeigte sich, dass die Qualität der Romanauszüge und Kurzgeschichten entscheidend war. Als Hirntraining war „echte“ Literatur (preisgekrönte Werke, Klassiker) der seichteren Unterhaltung (Bestseller) überlegen. Dabei war es egal, wie viel Spaß den Teilnehmern das Lesen gemacht hatte oder ob sie die Texte emotional berührt hatten.

Die Qualität von Belletristik sei zwar kaum messbar. Trotzdem gebe es Unterschiede, schreiben Kidd und Castano. Unterhaltung sei stereotyper. Sie bestätige die Meinung des Lesers und treibe vor allem die Handlung voran. In der Literatur bleibe vieles ungesagt und schwinge zwischen den Zeilen mit. Wendungen sind weniger vorhersehbar, Gut und Böse verschwimmen. Jeder Protagonist bringt seine eigene, widersprüchliche Vorstellungswelt mit. Die Kakofonie der Stimmen ermöglicht es, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Die Zweideutigkeit sei näher am „richtigen Leben“, meinen Kidd und Castano. Deshalb trainiere Literatur die „Theory of Mind“.

Die Studie sei nur „ein Schritt, den Einfluss von Literatur zu verstehen.“ Doch wer sich im Alltag auch nur ein wenig besser in andere hineinversetzen kann, kann mitunter folgenreiche Missverständnisse umschiffen. Ein Grund mehr für ein gutes Buch.

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