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Streit

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Gene und Erziehung: Du bist wie Deine Mutter!

Rio Reiser hat gesungen: "Ich will nicht werden, wie mein Alter ist." Tatsächlich möchte niemand mit seinen Eltern verglichen werden. Wie sinnvoll ist dieser Kampf gegen Gene und Erziehung? Was Psychologen und Hirnforscher raten.

Da ist dieser Widerwille in Gary. Gegen seine Frau, aber mehr noch gegen sich selbst. Es ist ein Sonntag, er steht vor einem Zimmer im ersten Stock und lauscht, wie Caroline und die drei Söhne Pizza essen und einen Kriegsfilm ansehen. Panzergeräusche dröhnen durch das Haus. Er selbst, denkt Gary, hat früher nur eine halbe Stunde am Tag fernsehen dürfen und nicht darunter gelitten. Seine Frau aber erlaubt den Kindern, so lange vor dem Gerät zu sitzen, wie sie wollen. Er hat sich diesem Urteil gefügt – gegen seine innere Überzeugung, wie er nun erkennen muss. Aus dem Wunsch heraus, es anders, lockerer zu halten als die eigenen Eltern. Caroline ist „die alleinige Sachwalterin seines Ehrgeizes, nicht wie sein Vater zu sein“.

Es ist eine der alltäglichen, präzise beobachteten Szenen aus Jonathan Franzens hochgelobtem Bestseller „Die Korrekturen“. Am Beispiel einer durchschnittlichen amerikanischen Familie verhandelt der Roman eine alte Frage, die sich wahrscheinlich jeder schon einmal gestellt hat – gerade in den vergangenen Weihnachstagen: Wie stark wird ein Mensch durch seine Eltern geprägt? Und: Wie viel kann man daran ändern? Franzens ernüchternde Antwort: viel weniger als man denkt.

Garys Eltern sind kreuzbrave Leute aus Amerikas Mittlerem Westen, konservativ, pflichtbewusst, sparsam. Wie seine zwei Geschwister ist Gary dem Mief der Provinz entflohen und in die Großstadt gezogen, dort arbeitet er als Investmentbanker. Und obwohl sein Leben auf den ersten Blick so ganz anders ist als das seiner Eltern, bricht sich deren Einfluss auf ihn doch Bahn.

Wie hat er zum Beispiel die Pfennigfuchserei seiner Eltern verachtet! Und streitet sich nun trotzdem mit seiner Mutter um 4,96 Dollar für eine Badezimmerhalterung, während er daheim argwöhnisch beobachtet, dass Caroline den Kindern jeden materiellen Wunsch erfüllen will, vom Laptop bis zur teuren Spiegelreflexkamera. Gleichzeitig stemmt sich Gary vehement gegen die Erkenntnis, Eigenschaften seiner Eltern mitbekommen zu haben. Durch nichts kann ihn seine Frau so sehr verletzen wie durch den Vorwurf, er sei depressiv wie sein Vater und ignorant wie seine Mutter.

Warum bloß schmerzen uns negative Eigenschaften besonders stark, wenn wir sie von den Eltern „geerbt“ zu haben scheinen? „Oft ist es so, dass man als Kind unter genau diesen Eigenschaften gelitten oder sie zumindest nicht gemocht hat“, erklärt Ursula Nuber, Diplompsychologin und Autorin des kürzlich erschienenen Buchs „Lass die Kindheit hinter dir“. „Und wenn man sie dann an sich selbst feststellt, bekommt man Angst, die Fehler der Eltern zu wiederholen und damit Anderen, insbesondere den eigenen Kindern, zu schaden.“

Aber selbst positive oder harmlose Merkmale der Eltern – ein markantes Lachen des Vaters zum Beispiel – können, ja müssen bei den Kindern auf Ablehnung stoßen. Nuber war früher die Durchsetzungsfähigkeit und die direkte Art ihrer Mutter „unendlich peinlich“. Erst als Erwachsene habe sie erkannt, dass es daran gar nichts auszusetzen gab. „Man muss sich für seine Eltern schämen, das ist völlig normal“, sagt sie.

Der Grund: Etwa mit zwei Jahren entdecken Kinder, dass sie ein eigenes Ich besitzen und individuelle Wünsche haben können. Diese Autonomie-Entwicklung ist mit einer Abgrenzung verbunden, die in der Pubertät schließlich zur Rebellion wird: Man selbst zu sein, heißt zunächst einmal, anders als die Eltern sein zu wollen. Jedenfalls in der klassischen Familie. Allein: „Weil sich keiner selbstständig definieren kann, wird der Mensch, von dem man sich abgrenzt, Teil der eigenen Identität“, sagt Ernst Pöppel, Professor an der Universität München und einer der wichtigsten deutschen Hirnforscher.

Mit anderen Worten: Auch, wenn man sich große Mühe gibt, anders als die Eltern zu sein, fließen deren Vorstellungen und Eigenschaften in die eigene Persönlichkeit ein. Diese Einflüsse zu entdecken, ist kränkend. Jeder möchte schließlich einzigartig sein. Alles was vorbestimmt ist, gibt einem zudem das Gefühl, man wäre seinem Schicksal ausgeliefert.

Wie viel einem Menschen schon genetisch, also von Geburt an, von den Eltern mitgegeben wurde, lässt sich unmöglich bestimmen. Laut Pöppel kann man zwischen Angeborenem und Erworbenem sowieso nicht unterscheiden: „Wir treten nicht programmiert in die Welt ein, sondern mit Angeboten“, sagt er. „Die Umwelt, in der wir aufwachsen, unsere Lebenserfahrung, sorgt dafür, dass manche dieser Angebote bestätigt, andere abgeschaltet werden.“ Klar ist aber auch: Viele haben eindeutig das Aussehen ihrer Eltern geerbt – und dieses scheint auf die innere Befindlichkeit zurückzuwirken. Außerdem findet die von Pöppel beschriebene „Grundeinstellung“ des Gehirns, an der sich danach nur noch wenig ändern lässt, in den frühen Lebensjahren statt. Also dann, wenn Kinder den engsten Kontakt zu ihren Eltern haben. Manchmal sind Vater und Mutter in dieser Zeit sogar die einzigen Bezugspersonen, entsprechend groß ist ihr Einfluss. „Die emotionale Prägung eines Menschen ist eine Sache der ersten fünf, sechs Jahre. Und das meiste, was mit Erkenntnis- und Informationsverarbeitung zu tun hat, wird in den ersten zehn Jahren geprägt“, erklärt der Hirnforscher.

Kinder lernen durch Vorbilder. Sie kopieren unbewusst, was sie an anderen beobachten, insbesondere an ihren festen Bezugspersonen (das können auch die Großeltern sein, wenn das Kind bei ihnen aufwächst). Die Eindrücke werden verinnerlicht, bilden eine Schablone im Kopf, die für den Rest des Lebens Bestand hat. „Kinder registrieren zum Beispiel, wie sich die Eltern politisch äußern oder ob die Mutter einem Bettler Geld gibt – das wirkt sich auf die eigenen Werte, die eigenene Moral aus“, erklärt Psychologin Ursula Nuber. Und es wirkt fort. Eben auch dann, wenn man sich bewusst davon absetzt. Über „Spiegel“-Redakteur Jan Fleischhauer, der im Buch „Unter Linken“ mit seinem Elternhaus und vor allem mit den Idealen seiner Mutter abrechnet, sagt Nuber: „Ich bin ziemlich sicher, dass er ein Linker ist und sich nur ein anderes Fell übergezogen hat, um seine Eigenständigkeit zu wahren.“

Kinder nehmen auch sehr genau wahr, wie Mutter und Vater mit Konflikten umgehen. Streiten sie offen? Streiten sie oft? „Studien zeigen: Wenn es viele Auseinandersetzungen zwischen den Eltern gegeben hat, dann wiederholt sich das in den Beziehungen der Kinder“, so Nuber.

Männliche Kinder orientieren sich eher an der Rolle des Vaters, weibliche an der Rolle der Mutter – und wählen, darauf deuten viele Untersuchungen hin, später einen Partner, der dem gegengeschlechtlichen Elternteil gleicht. „Wenn ich jemanden kennenlerne, der mich an Vater oder Mutter erinnert, gibt es einfach eine große Vertrautheit“, sagt Hirnforscher Pöppel. Eine Untersuchung von Psychologen der schottischen Universität St. Andrews zeigt, dass auch das Aussehen eine Rolle spielt. Augen- und Haarfarbe des Partners stimmen demnach auffallend oft mit der des eigenen Vaters beziehungsweise der Mutter überein.

All diese Beweise für den Einfluss der Eltern auf die Persönlichkeit des Kindes bedeuten freilich nicht, dass man dazu verdammt ist, das Leben von Vater oder Mutter zu wiederholen. Manchmal fällt der Einfluss stärker, manchmal schwächer aus. Auf jeden Fall ist kein Mensch ein Klon. Es ist aber wichtig, zu akzeptieren, dass die Ursprünge des eigenen Charakters häufig in dem der Eltern liegen – etwas, woran Gary, die Figur aus „Die Korrekturen“, scheitert. Denn tatsächlich, da hat Jonathan Franzen recht, sind grundsätzliche Korrekturen an dem, was einen geprägt hat, so gut wie unmöglich.

„Wenn ich jähzornig bin, weil ich mir dieses Verhalten als kleines Kind vom Vater ,abgeschaut’ habe, dann werde ich das nie völlig abstellen können“, sagt Ursula Nuber. Und Hirnforscher Pöppel ergänzt: „Es gibt keinen Weg zurück. Wir sind, wie wir sind.“ Was man aber sehr wohl tun kann, ist, besser, vernünftiger mit den mitgegebenen Eigenschaften umzugehen als es die Eltern getan haben. „Ich sollte also zum Beispiel versuchen, den Jähzorn einzudämmen“, sagt Nuber. „Sprich: Strategien entwickeln, damit ich gar nicht erst bei der kleinsten Kleinigkeit explodiere und mich, falls es doch einmal passiert, entschuldigen – wie es der Vater vielleicht nie getan hat.“

Im Idealfall kann man Frieden sowohl mit den eigenen Fehlern als auch mit denen der Eltern schließen – und mit Manfred Krug sagen: „Ich wollte nie so werden wie mein Vater. Jetzt bin ich so und find’s gar nicht so schlimm.“

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