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Chromosomen

© Mauritius

Genetik: Die Sprache des Lebens verstehen

Der Welt-Genetikkongress tagt in Berlin und offenbart: Das Zeitalter der Genforschung beginnt erst.

Berlin steht in diesen Tagen im Zentrum einer der modernsten Forschungsdisziplinen: der Genetik. Jahrzehnte ist es her, dass der Internationale Kongress für Genetik in Deutschland tagte, die letzte Versammlung hierzulande war 1927.

Dann kam Hitler, und mit Hitler die Eugenik und die grausamen „Experimente“ des KZ-„Arztes“ Josef Mengele. Über die Genetik fiel ein Schatten, von dem sich die Disziplin bis heute nicht ganz hat befreien können.

Doch auch wenn die Eugenik ein Thema auf dem Kongress sein wird – im weitaus überwiegenden Teil geht es um Grundlagenforschung.

Und hier tut sich zurzeit jede Menge. Man hätte auch anderes erwarten können. Man könnte denken: Nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms ist die Hauptarbeit getan, und was nun geschehen wird, ist Detailarbeit. Dieser Eindruck aber täuscht, das wird der Kongress klarmachen. Das machten auch die Auftaktveranstaltung mit den Nobelpreisträgern Christiane Nüsslein-Volhard, Oliver Smithies und Mario Capecchi am Sonnabend deutlich: Die Genetik steht erst am Anfang.

Zwar sind inzwischen zahlreiche Genome – vom Kugelfisch bis zum Menschen – entschlüsselt worden. Das heißt jedoch nur, dass man die einzelnen Buchstaben des Erbguts kennt. Der Text liegt offen vor uns, aber wir kennen die Sprache noch nicht. Im Großen und Ganzen haben wir wenig Ahnung, was die Wörter – die Gene – bedeuten. Welche Funktion haben die Gene?

Das herauszufinden ist die Aufgabe zukünftiger Genetiker. Smithies und Capecchi gehören zu den Pionieren dieses Vorstoßes. Sie schufen die erste Maus, in der gezielt ein Gen abgeschaltet war, um zu prüfen, was es bewirkt. Dafür bekamen sie letztes Jahr den Medizin-Nobelpreis. Die Entdeckung ist deshalb so wichtig, weil viele Erkrankungen genetischen Ursprungs sind, darunter auch zahlreiche Krebsformen. Wer im Tierversuch gezielt Erbanlagen an- oder abschalten kann, der kann die Mechanismen der Krebsentstehung genauer als je zuvor studieren.

So stellte Capecchi am Samstag in einem gut besuchten Saal des Berliner ICC (International Congress Center) ein Verfahren vor, mit dem man in der Maus ein beliebiges Gen anschalten kann, um zu sehen, ob und wie und vor allem in welchen Geweben dieses Gen zur Bildung eines bösartigen Tumors führt. Zusammen mit einigen weiteren Verfahren bekommen die Genforscher so zunehmend chirurgische „Kontrolle“ über das Genom.

Zugleich weisen andere Erkenntnisse in eine eher gegenläufige Richtung: Das Genom ist weitaus komplizierter und „unkontrollierter“ als lange gedacht. Ein Beispiel: Früher war man immer davon ausgegangen, dass eineiige Zwillinge genetisch identisch sind. Zunehmend aber entdeckt man, dass selbst sie von einem sehr frühen Zeitpunkt an genetische Funktionsunterschiede haben.

Jeder Mensch bekommt die Hälfte seiner Erbanlagen von der Mutter, die andere Hälfte vom Vater. Bereits im Embryonalstadium jedoch werden manche dieser Erbanlagen aktiviert, andere stillgelegt – und diese Aktivitätsprofile sind selbst bei eineiigen Zwillingen nicht gleich. Das könnte mit eine Erklärung dafür sein, weshalb selbst eineiige Zwillinge unterschiedlich anfällig für gewisse Krankheiten sind. Auch spätere Umwelt-, Ernährungs- und Erziehungseinflüsse wirken auf diese Aktivitätsprofile. Der klassische Gegensatz von Gen- und Umwelteinflüssen erscheint damit überholt und durch eine andere Sichtweise ersetzt: Umwelt und später auch Erziehung wirken über die Gene.

Viel Stoff also – und doch nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was die 2000 Forscher bis Donnerstag beschäftigen wird.

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