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„Nur ein Idiot fährt auf einen Bürgersteig, um einem Schulbus auszuweichen.“ In Ohio wurde eine Frau dazu verurteilt, öffentlich Buße zu tun.

© REUTERS

Geschichte von Gefühlen: Öffentlich beschämt

Wann wird Scham zur Strafe, wann werden Schamstrafen geächtet? Historiker erforschen öffentliche Demütigungen im 20. Jahrhundert – und deuten sie als Krisenphänome.

Herr Mux hat die Methode perfektioniert: Kleine Mogeleien seiner Mitmenschen nutzt er aus, um daraus Geld zu machen. Raser kassiert er gleich auf der Straße ab, eine Kaufhausdiebin muss unter seinem Blick den geklauten BH ausziehen, einen Mann, der verbotene Pornos schaut, erpresst er vor dem Geldautomaten. Keines seiner Opfer wehrt sich, niemand fragt nach Mux’ Legitimation, sie an den Pranger zu stellen. Konfrontiert mit ihrer Tat, fallen die Ertappten in eine Art Schockstarre. Sie lassen so ziemlich alles mit sich machen. Mehr noch: Auf seinem Feldzug der Moral schließen sich Mux immer mehr Menschen an.

Wer glaubt, dass solche Brachialmethoden der Moralisierung-durch-Beschämung nur im Kino vorkommen (die beschriebenen Szenen stammen aus dem Film „Muxmäuschenstill“ des Regisseurs Marcus Mittermaier), dem sei ein Blick in die Geschichte empfohlen. Es reicht dafür schon, die jüngste Vergangenheit zu betrachten, denn in den USA versucht man dieser Tage, angesichts überfüllter Gefängnisse die Schamstrafe wieder einzuführen. Konkret bedeutet das eine öffentliche Zurschaustellung zum Beispiel von Verkehrssündern. Im November musste eine Frau aus Ohio zwei Tage lang vor einem Schultor stehen und ein Schild um den Hals tragen: Darauf bezeichnet sie sich als „Idiotin“, weil sie mit dem Auto auf dem Bürgersteig fuhr, um nicht wegen eines wartenden Schulbusses anhalten zu müssen. Die Stadt verurteilte sie zu dieser Strafe, um ein abschreckendes Exempel zu statuieren.

Ob die öffentliche Demütigung zurückgekehrt ist, braucht man in Zeiten des Online-„Shitstorms“ kaum zu fragen. An solch aktuellen Beispielen sind Historiker, die sich mit der Geschichte der Scham im 20. Jahrhundert beschäftigen, allerdings weniger interessiert. Auf einer Konferenz des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung behandelten Forscher unlängst vielmehr überwiegend Beschämungsaktionen infolge des Zweiten Weltkriegs. Scham, das zeigte die Konferenz, ist ein hochkomplexes Gefühl, das gerne politisch eingesetzt wird.

Ute Frevert, Direktorin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ am MPI, interessieren vor allem die Methoden der Beschämung. Wer hat gejubelt, wer hat weggeschaut, als Hunderten von Frauen nach Frankreichs Befreiung die Haare abrasiert wurden, weil sie Verhältnisse mit Deutschen hatten? Wie lange bleibt Scham am Körper sichtbar? Warum werden Schamstrafen zu bestimmten Zeiten akzeptiert, zu anderen geächtet?

Scham, so viel darf man bei aller historischen Feinjustierung festhalten, ist eng mit Schuld verbunden und doch etwas anderes. Schuld ist privat, man kann sie anerkennen, büßen, ablehnen. Die Scham ist öffentlich, manche sagen, sie sei ein „soziales Gefühl“. Es braucht dafür immer andere, die die Rolle der moralisch Überlegenen übernehmen. Dabei ist die Scham in erster Linie ein Produkt der Imagination. Sie entsteht durch die Angst, von anderen negativ gesehen zu werden, und hat gleichzeitig vor allem mit gesunkenem Selbstwert zu tun. Scham ist auch deshalb sozial, weil sie Menschen daran erinnert, zu welcher moralischen Gruppe sie gehören wollen. Und noch etwas: Scham kann gemeinsam empfunden werden. Bei der Tagung fällt immer wieder der Begriff des deutschen Kollektivschämens über die Verbrechen, die im Namen des Volkes an Juden verübt wurden.

Alles in allem ist sie aber schwer zu greifen, die Scham, und schon gar nicht zu messen. Denn worüber man sich historisch unterhalten kann, ist immer nur die zugewiesene Bedeutung, nicht aber die empfundene Bedeutung der Scham. Ob die französischen Frauen, die die Historikerin Anne Ruderman in Filmausschnitten zeigt, sich wirklich schämen, als ihre Locken mit dem Rasiermesser von der Kopfhaut getrennt werden, ist schwer zu sagen. Manche weinen, andere blicken stoisch geradeaus, andere heben triumphierend den Kopf.

Die Bilder transportieren noch immer die brutale Geste: Die kahlgeschorenen Köpfe der Frauen erinnern an Konzentrationslager. Sie entsexualisieren und entindividualisieren die Frauen, denn mit ihren Glatzen kann man sie kaum unterscheiden, nicht voneinander und nicht von den Männern. Die öffentliche Rasur zeigt eben auch, wie stark Beschämungsstrategien an das Geschlecht gebunden sind. Einzelnen Frauen müssen hier die Schuld vieler büßen. Ann Goldberg von der kalifornischen Riverside-Universität fragt in die Runde, ob mit der Beschämung von Frauen nicht die männlich dominierte Gesellschaftsordnung wiederhergestellt werde. Immerhin hätten die deutschen Besatzer vor allem den französischen Männern ihre Macht genommen.

Und so zeigen die Forscher, wie die Strafen auf beängstigende Weise Unrecht, Selbstjustiz und das Bedürfnis nach moralischem Halt vermischen. Beschämung ist ein Phänomen des Übergangs und der Krise, selten ist sie rechtlich legitimiert wie bei den Verkehrsdelikten in den USA. Beschämer waren oft vorher selbst Beschämte. Und schnell gerät auch die Beschämung unter Verdacht.

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