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Geständnis von Lance Armstrong: Schuld und Bühne

Was Menschen nach schlechten Taten zum Geständnis drängt – und warum Verzeihen guttut.

Jetzt ist es raus – auch aus seinem eigenen Mund. Nachdem ihm im letzten Jahr alle sieben Tour-de-France-Siege aberkannt worden waren, hatte der ehemalige Radrennprofi Lance Armstrong zunächst beharrlich zu den Vorwürfen geschwiegen, er habe gedopt und betrogen. Nun hat er in der Talkshow von Oprah Winfrey erstmals seine Verfehlungen eingestanden.

Was Armstrong zum langjährigen planmäßigen Doping trieb, ist leicht einzusehen, auch aus evolutionsbiologischer Sicht: „Niemand braucht einen Wissenschaftler, um zu wissen, dass die Menschen geborene Gauner sind“, schreibt der amerikanische Psychologe Steven Pinker in seinem Bestseller „Wie das Denken im Kopf entsteht“. Betrügen kann Vorteile gegenüber Konkurrenten bringen, deshalb hat es sich in der Natur in zahlreichen Spielarten immer wieder durchgesetzt. „Die Selektion begünstigt Betrüger, wenn der Altruist ahnungslos bleibt oder sein Verhalten trotz der Entlarvung von Betrügern nicht ändern will“, schreibt Pinker. Falls die Strategien, mit denen die Mitglieder der eigenen Gruppe Betrügern auf die Schliche kommen, subtiler werden, werden auch die Betrüge raffinierter – und so fort.

So weit, so klar. Doch was bringt es den Tätern, wenn sie anschließend den Betrug gestehen? Warum plagen viele Betrüger Schuldgefühle und schlechtes Gewissen? Über das Gewissen gibt es eine große Anzahl theologischer, juristischer, psychologischer und anthropologischer Gedanken und Theorien. Eine konsensfähige Minimaldefinition, die ohne Rückgriff auf inneres moralisches Empfinden auskommt, bot der amerikanische Schriftsteller Henri Louis Mencken Mitte der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts an: Gewissen, so schrieb er, sei „die innere Stimme, die uns warnt, dass vielleicht jemand zusieht“. Eine Instanz also, die die Kosten der Entlarvung voraussieht. Dass der Gedanke an diese Kosten quälen kann, ist offensichtlich.

In Armstrongs Fall ging es noch dazu um den Sturz eines Helden, der seinem Publikum nicht allein durch sportliche Spitzenleistungen, sondern auch durch seinen tapferen Kampf gegen Hodenkrebs und seine Krebsstiftung Respekt abgenötigt hatte. Wer in einer solchen Lage Verfehlungen öffentlich eingesteht, mag auf juristische Vorteile als Informant und Kronzeuge spekulieren. Sehr wahrscheinlich ist aber auch, dass er das Geständnis als letzte Chance ansieht, die Mitmenschen wieder auf seine Seite zu ziehen, sich öffentlich zu rehabilitieren. In den USA liebten es die Menschen, gefallene Sportstars in einer Schlammschlacht fertigzumachen, urteilte der amerikanische Sportanwalt Jay K. Reisinger auf „Spiegel Online“. „Doch dann verlieben sie sich ebenso schnell wieder, wenn ihre einstigen Idole gestehen.“

Die Evolution hat dem Menschen für solche Geständnisse ein hilfreiches Mittel mitgegeben: die Scham. Diese Reaktion auf einen Fehltritt nach seiner Entdeckung habe zur Folge, dass man dem Missetäter seine Zerknirschung ansieht, erklärt Pinker. Man glaubt an seine Reue – die im katholischen Sakrament der Buße die Voraussetzung für die Absolution darstellt. Tatsächlich wird Armstrong nun vor allem dafür kritisiert, dass er im Interview keine Reue gezeigt habe.

Besonders wichtig sind auch die Worte, die gewählt werden: „Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass eine Bitte um Entschuldigung des vermeintlich Schuldigen das Verzeihen enorm erleichtert“, sagt der Sozialpsychologe Christian Schwennen von der Ruhr-Universität in Bochum, der seit Jahren zum Thema Verzeihen forscht.

Ob man nun tief im Inneren bereut oder nicht, ob es sich um eine Lappalie wie das Anrempeln in der U-Bahn oder um Schwerwiegendes wie unerlaubtes Doping im Sport oder auch einen Vertrauensbruch in einer Partnerschaft handelt: Wer die Tat „beichtet“ und „Verzeihung!“ sagt, übernimmt schon einmal Verantwortung. Wie bedeutsam das ist, erfuhr die Sozialwissenschaftlerin Sonja Fücker von der Freien Universität Berlin in einer Interviewstudie. „Der Verursacher einer Verfehlung muss die Schuld anerkennen und bestimmte Handlungserwartungen des Opfers wie Schuldeingeständnis, Reuebekundungen und Entschuldigung erfüllen“, sagt Fücker.

Dann ist der andere am Zug. Wer verzeiht, ist großzügig, tut aber auch sich selbst etwas Gutes. Vergeben habe wahrscheinlich zwei Funktionen, vermutet die Charité-Psychiaterin Angela Merkl, die den Zusammenhang zwischen Verzeihen und Empathie erforscht hat. „Es hält nicht nur Bindungen aufrecht, die der Mensch zum Überleben braucht, es dient auch dazu, dass wir mit unseren emotionalen Kräften haushalten können – und damit gesünder leben.“ Dazu passt, dass wir umso leichter zu verzeihen bereit sind, je bedeutungsvoller die Beziehung für uns ist – und das, obwohl ein Fehlverhalten der uns Nahestehenden uns am meisten verletzt.

Möglicherweise geraten in diesem Fall aber das Bedürfnis nach Rache und das nach Versöhnung besonders heftig in Konflikt, wie der Evolutionspsychologe Michael McCullough von der Universität in Miami in einem gerade erschienenen Beitrag für die Zeitschrift „Behavioral and Brain Sciences“ vermutet: Man möchte verhindern, dass die Tat sich wiederholt – und man möchte die Beziehung nicht aufs Spiel setzen. Dass die engsten Angehörigen zugleich Quelle der schönsten und der belastendsten Gefühle sein können, nennt Christian Schwennen das „zwischenmenschliche Paradox“.

Es hat das Potenzial, Menschen krank zu machen: So hat Merkl in einer Befragung zu Beginn des Projekts festgestellt, dass Menschen, die noch eine „unverziehene“ Geschichte mit sich herumschleppen, als deren Opfer sie sich fühlen, besonders häufig über depressive Verstimmungen und über quälendes Grübeln klagen – auch das ist aus anderen Untersuchungen bekannt und bereits gut untermauert.

Als einer der Vorreiter der Verzeihens-Forschung, der amerikanische Erziehungspsychologe Robert Enright von der Universität Wisconsin-Madison, Mitte der 90er Jahre begann, sich für das Thema zu interessieren, war er vor allem verblüfft darüber, wie normal es in der amerikanischen Gesellschaft heute ist – und als wie „gesund“ es gilt –, seine Wut zu zeigen.

„In der US-amerikanischen Gesellschaft können die Bürger ein gehöriges Quantum an Wut zum Ausdruck bringen. Es ist gesellschaftlich akzeptiert, dass die Menschen einander nicht vergeben“, schreibt Enright. „In Talkshows drängen sich Teilnehmer, deren Wut pathologische Grenzen erreicht hat und mit denen man umgeht, als ob ein solches Ausmaß an Wut völlig normal und akzeptabel sei.“

Menschen, die bereit sind, sich im Nachmittagsfernsehen in Rage zu reden und dabei in ihrem Gefühlsüberschwang Intimstes aus ihrem Familien- und Sexualleben preiszugeben, werden auch hierzulande von den Sendern als telegen und unterhaltsam hofiert. Möglicherweise tun die Protagonisten dem Publikum etwas Gutes, indem sie ihre negativen Emotionen stellvertretend ausleben. Ihrer eigenen seelischen und körperlichen Gesundheit tun sie dagegen keinen Gefallen. „Wut ist wie Alkohol“, sagt Psychologe Enright, „eine kleine Menge kann wohltuend sein, aber zu viel davon wird zum Problem und kann sogar abhängig machen.“

Dabei scheint nicht nur die laute Wut, sondern auch das leisere Verzeihen im Gehirn ein ganzes Orchester zu beschäftigen. Schon 2001 haben britische Forscher damit begonnen, mit dem funktionellen Magnetresonanztomografen („Hirnscanner“) die „Anatomie“ des Verzeihens sichtbar zu machen. Tom Farrow von der Universität Sheffield und sein Team haben dafür eine Gruppe von zehn Freiwilligen in den Scanner gelegt, ihnen kurze Alltagsgeschichten präsentiert, sie um ihre Einschätzung und ihre Gefühle gebeten und nach besonderen Aktivitäten in verschiedenen Gehirnregionen Ausschau gehalten.

Spannenderweise zeigten sich charakteristische Unterschiede in der Aktivität des Vorderhirns, je nachdem, ob die Aufgabe darin bestand, sich einfach in die Lage eines anderen hineinzuversetzen, oder ob ausdrücklich ein Urteil darüber gefragt war, welches Vergehen am ehesten zu verzeihen sei. Wahrscheinlich sei ein Geflecht von Funktionen des Frontalhirns an den Vorgängen rund um das Verzeihen beteiligt, weil rationale Abwägungen, emotionale Bewertungen und kognitive Kontrolle hier eng verwoben seien, meint Merkl.

Spannend ist aber nicht allein, wie das Vergeben biologisch „funktioniert“, sondern auch, wo im Gehirn es Entlastung bringt. „Wir können uns vorstellen, dass die Übererregung des Mandelkerns dadurch abnimmt“, sagt Merkl. Diese Hirnstruktur hat eine zentrale Bedeutung für das menschliche Empfinden und Lernen, sie bildet im Gehirn eine Art Alarmsystem für neue – interessante, die Neugier weckende, aber auch gefährliche – Reize.

Der Mandelkern gehört zum Limbischen System, in dem über die emotionale Bedeutung von Signalen bestimmt wird. Bei Bedarf und genügend Zeit werden hier Situationen wieder und wieder „durchgenommen“ und bewertet. Das kann zu einer Verfeinerung unserer Einschätzungen führen, aber auch zu zermürbendem Grübeln.

Versöhnliche Verhaltensmuster sind dabei offenbar kein Privileg des Homo sapiens sapiens zu sein: Der niederländische Biologe und Primatenforscher Frans de Waal sieht Schimpansen, Rhesusaffen, Bärenmakaken und Bonobos als „Wilde Diplomaten“, die sich in ihrem Alltag ständig Angebote zum Friedenschluss unterbreiten. Um sie zu erkennen, müssen Forscher allerdings geduldig auf sehr subtile und zeitversetzte Signale achten: De Waal hat etwa Schimpansen dabei beobachtet, wie das Opfer einer Aggression dem Angreifer Stunden später die Hand zum Kuss hinhält. „Bevor ich Versöhnung als ‚Verstandesmerkmal’ betrachte, das nur bei Hominiden vorkommt, würde ich erwarten, es in jeder Spezies zu finden, die in gemeinschaftlichen Gruppen mit Langzeitbeziehungen lebt, die es wert sind, nach Streitigkeiten wiederhergestellt zu werden“, schreibt der Biologe.

Enright und seine Arbeitsgruppe konnten in Studien zeigen, dass es heilend wirkt, das Vergeben zu lernen. Sie haben dafür Versuchspersonen ausgewählt, die in anhaltender Wut auf einen anderen Menschen lebten, und sie in zwei Gruppen geteilt. In einer Studie waren das Frauen zwischen 24 und 54 Jahren, die die Erfahrung des sexuellen Missbrauchs gemacht hatten, in einer anderen Männer, die von der einsamen Entscheidung ihrer Partnerinnen zum Schwangerschaftsabbruch nachhaltig verletzt waren. Tatsächlich litten die Probanden, die ein spezielles „Verzeihens“-Programm in Ruhe durchlaufen hatten, danach weniger unter Depressionen und Ängsten als Teilnehmer aus der Kontrollgruppe.

Damit keine Missverständnisse entstehen: Die Teilnehmer der Studie haben daran gearbeitet, einem Menschen zu verzeihen – nicht eine Tat. „Das Vergeben bezieht sich nur auf die Person und niemals auf die Sache, und es kann daher auch objektiv ungerecht sein“, schreibt die Philosophin Hannah Arendt in ihrem Buch „Vita activa“. In einer Woche, in der nicht allein ein Radrennfahrer mit seiner telegenen Entschuldigung Aufsehen erregte, sondern auch eine Schauspielerin mit ihrem Bericht über drastische sexuelle Übergriffe in der Kindheit, ist diese Unterscheidung zwischen Tat und Täter besonders wichtig.

Wir wissen nicht, ob Pola Kinski ihrem Vater jemals wird verzeihen können. Sicher ist nur, dass es dabei nicht um die Handlungen selbst gehen kann. Taten können nicht rückgängig, allenfalls „wieder gut gemacht“ werden, Tote können noch nicht einmal um Entschuldigung dafür bitten. Menschen können sich in Hannah Arendts Sicht nur gegenseitig „von den Folgen dessen befreien, was sie getan haben“. Für die Philosophin ist die Fähigkeit zum Verzeihen nicht weniger als das „Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit“.

Die Autorin ist Verfasserin des Buches „Verzeihen können – sich selbst und anderen“ (Ch. Links Verlag 2011)

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