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© dpa

Gesundheit: Tastensinn

Musik und Medizin: Erkenntnisse über das Klavierspiel erleichtern das Üben und helfen Schlaganfallpatienten. Denn mit zunehmender Dauer der musikalischen Ausbildung hinterlässt das Instrument daher so seine Spuren im Gehirn.

Wenn Hélène Grimaud beim Rachmaninoff-Klavierkonzert über die Tasten fegt, ist das eine körperliche Höchstleistung. Alle Hände voll zu tun haben Pianisten auch, wenn sie sich an Franz Liszts sechster Paganini-Etüde versuchen. Bis zu 1800 Noten in der Minute gilt es hier zielsicher anzusteuern. Selbst jede Fuge von Johann Sebastian Bach, so locker sie auch klingen mag, fordert „Unbegreifliches“: Bisweilen müssen einige Finger einer Hand die Töne fließend, legato, spielen, während die anderen derselben Hand gleichzeitig stoßartig, „staccato“, anschlagen.

Begeistert sitzt der Zuhörer und Hobbyspieler im Konzertsaal und fragt sich: Wie macht man so etwas nur? Doch auch Neurowissenschaftler, Musikmediziner und Pädagogen beschäftigt die Frage stets aufs Neue. Die Sache ist kompliziert. Schließlich werden beim Klavierspiel blitzschnell verschiedene Sinneseindrücke vom Gehirn verarbeitet und in eine zielsichere Bewegung umgewandelt: Die Augen sehen Noten, Tasten und womöglich auch noch einen Dirigenten; die Fingerspitzen fühlen die gut zwei Zentimeter breiten weißen und die schmaleren schwarzen Tasten; Sensoren aus Muskeln und Gelenken melden die jeweilige Stellung der Finger und Arme und das Ohr vermittelt dem Spieler unverblümt, ob es richtig klingt, nämlich so, wie man es sich vorgestellt hat, oder zu laut, holperig und einfach schief. Professionelle Klavierspieler können ihre Fingerfertigkeit bisweilen so vervollkommnen, dass sie etwa eine C-Dur-Tonleiter mit 16 Anschlägen pro Sekunde herauf- und wieder herunterfliegen.

Und das, wie Hans-Christian Jabusch vom Institut für Musikermedizin an der Hochschule für Musik in Dresden zusammen mit anderen Forschern herausgefunden hat, mit extremer Genauigkeit. 20 Pianisten spielten im Test Tonleitern so gleichmäßig, dass Tempoabweichungen von durchschnittlich – für das Ohr nicht mehr hörbaren – rund 8 Millisekunden gemessen werden konnten. Auf diesem Niveau zu spielen, gelang den Musikern aber nur, wenn sie täglich knapp vier Stunden am Instrument übten.

Eine ähnliche Untersuchung machte der Dresdner Musikmediziner auch an kleinen, acht- bis 17-jährigen Tastentigern. Natürlich wirkte sich auch hier der Faktor „Erfahrung am Klavier“ auf die Geläufigkeit der Hände aus. Die tägliche Übungszeit stand jedoch nicht im Vordergrund. Vielmehr fördere die Freude an der Musik, am Üben und musischer Beschäftigung die motorische Entwicklung der Kinder, sagt Jabusch. Es helfe nicht, wenn die Eltern jeden Tag stur das Klavierüben einforderten, den Kindern aber kein reiches musikalisches Umfeld böten. Hierzu gehöre etwa auch, gemeinsam Konzerte zu besuchen. Denn Kinder seien wahre Imitationskünstler, die Handhaltung oder Anschlagstechniken, die oft schwer mit Worten allein zu vermitteln seien, gerne von Vorbildern übernehmen würden.

Allein durch das Hören von (Klavier-)Musik und nicht nur beim Selberspielen wird ein ausgewähltes Ensemble an Nervenzellen wiederholt aktiviert. Mit zunehmender Dauer der musikalischen Ausbildung hinterlässt das Instrument daher so seine Spuren im Gehirn. Die Bereiche der Großhirnrinde etwa, die Hörreize verarbeiten oder Bewegungen steuern, legen deutlich an Volumen zu. Die verschiedenen Hirnmodule werden dabei so vernetzt, dass bereits nach der ersten Klavierstunde Hörareale auch dann aktiviert werden, wenn der Klavierspieler im Experiment auf einem stumm geschalteten Klavier übt, also gar nichts hört. Andererseits regen sich die Nervenzellen in den Bewegungsbereichen der Hirnrinde allein durch das Hören von Klaviermusik, ohne dass überhaupt ein Finger gekrümmt wird.

Von den Beobachtungen der Musikphysiologen profitiert der Klavierunterricht. Jabusch empfiehlt Klavierstudenten, nicht länger als 45 Minuten am Stück zu üben, weil Muskeln und Aufmerksamkeit ermüden. Bei Kindern kann diese Zeitspanne sogar nur fünf bis zehn Minuten betragen. Wird zu lange ohne Pausen gespielt, kann sich der Übungseffekt ins Gegenteil kehren: Das Stück wird schlechter, weil Hilfsmuskeln die Arbeit übernehmen und die Bewegungsabläufe fehlprogrammiert werden.

Der Dresdner rät, gelegentlich mentale Übungsphasen einzulegen. Diese Technik, bei Leistungssportlern bereits gang und gäbe, schont Gelenke und Sehnen, weil der Musiker nicht spielt, sondern sich Note für Note lediglich vorstellt: Wie klingt der Ton, wie lang und mit welchem Finger muss er gespielt werden.

Der geübte Musiker erkennt Muster im Notenbild und weiß auch ohne zu spielen, wie sich Tonfolgen und Akkorde anfühlen. Was es bringen kann, ein Stück auf diese Weise durchzudenken, zeigt die Anekdote, über die Arthur Rubinstein in seinen Memoiren berichtet: Ohne die „Variations symphoniques“ von César Franck für Klavier und Orchester jemals tatsächlich gespielt zu haben, führte der Pianist sie in Madrid auswendig auf, nachdem er die verspätet erhaltenen Noten auf der langen Busfahrt nach Spanien lediglich intensiv studiert hatte.

Musik und das Musizieren haben einen vernetzenden Effekt auf das Gehirn. Das nutzt etwa auch ein neues Therapieverfahren, das Sabine Schneider vom Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin in Hannover für Schlaganfallpatienten entwickelt und bereits erfolgreich in die Praxis umgesetzt hat. Die Betroffenen, meist ohne Klaviererfahrung, spielen am Keyboard einfache Melodien. Wie Untersuchungen zeigen, trainiert das die Feinmotorik bereits nach drei Wochen so effektiv, dass die Patienten bei Bewegungstests besser abschneiden als solche, die nur mit konventionellen Therapien behandelt werden.

Für den Erfolg der Methode gibt die Psychologin aus Hannover einerseits den „Spaßfaktor“ an. Doch bei der Therapieform kommt besonders das Einmalige des Musizierens zum Tragen: Durch das Hören des noch nicht ganz perfekt gespielten Tones ordnet das Gehirn eine sofortige Bewegungskorrektur an, um beim nächsten Anlauf den erhofften Wohlklang zu erzielen.

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