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© dpa

Gesundheitsentwicklung: Der gesunde Mauerfall

Ostdeutsche lebten ungesünder und kürzer. Nach 20 Jahren sind die Unterschiede fast verschwunden. Doch nicht immer war die Anpassung von Vorteil.

Große Geschichte findet sich nicht nur in Daten und Dokumenten, sie lässt sich auch in Körpern und Krankheiten lesen. Das sahen Statistiker nach der Wiedervereinigung allzu deutlich: Die Ernährung war im Osten ungesünder, es gab mehr fettleibige Menschen, mehr Diabeteskranke und die Zahl der Selbstmorde war fast doppelt so hoch wie im Westen. Andererseits litten ostdeutsche Frauen seltener an Brust- und Lungenkrebs und es gab dort weniger Allergien und weniger HIV- und Maserninfektionen.

20 Jahre später ist die Situation eine andere: Alte und neue Bundesländer haben sich in all diesen Punkten einander angenähert, in vielen sogar angeglichen. Unterm Strich hat das für die Ostdeutschen einen wesentlichen Vorteil gehabt: Sie leben heute länger.

„Das ist ein sehr deutlicher Effekt“, sagt Roland Rau, Demograf an der Universität Rostock. So konnten Mädchen, die im Jahr der Wiedervereinigung im Westen geboren wurden, mit 79 Lebensjahren rechnen, ihre Altersgenossinnen im Osten nur mit 76 Jahren. Für Jungen war die Lebenserwartung im Osten sogar dreieinhalb Jahre geringer als im Westen. In den vergangenen 20 Jahren sind diese Unterschiede geschmolzen: Bei Frauen sind es nur noch drei, bei Männern noch 15 Monate. „Selbst Menschen, die 1989 schon achtzig Jahre alt waren, haben durch den Mauerfall ein paar Monate hinzugewonnen“, sagt Rau.

Wer wissen will, woher die gewonnenen Jahre kommen, der wird beim Robert-Koch-Institut (RKI) fündig. In dem Bericht „20 Jahre nach dem Fall der Mauer: Wie hat sich die Gesundheit in Deutschland entwickelt?“ werden auf fast 300 Seiten Krankheiten und Todesursachen in Ost und West untersucht.

„Besonders bedeutsam ist der Sterblichkeitsrückgang bei den Herz-Kreislauferkrankungen“, sagt Bärbel-Maria Kurth, die die Studie des RKI geleitet hat. Noch immer sterben im Osten mehr Menschen an Herzinfarkten und anderen Gefäßkrankheiten als im Westen, aber die Unterschiede sind im Vergleich zu 1990 dramatisch geschrumpft. Ursache sei sowohl ein verändertes Verhalten als auch eine bessere Versorgung, glaubt die Ost-Berlinerin Kurth. „Mein Vater war herzkrank. Nach der Wende hat er einen modernen Schrittmacher bekommen und ist 87 Jahre alt geworden. Das wäre er unter DDR-Bedingungen sicher nicht.“

Selbstmorde und tödliche Unfälle sind ebenfalls seltener geworden. Unmittelbar nach der Wende kamen sie im Osten fast doppelt so häufig vor wie im Westen. Inzwischen hat sich die Zahl der ostdeutschen Männer und Frauen fast halbiert, die bei Unfällen im Verkehr, bei der Arbeit oder im Haushalt ums Leben kommen. Im selben Zeitraum haben sich die Werte in den alten Bundesländern nur wenig verändert. Die Zahl der Selbstmorde in Ost und West ist heute annähernd gleich.

Auch Fettleibigkeit kam in den neuen Bundesländern häufiger vor. „Das liegt unter anderem daran, dass in den neuen Bundesländern weniger Sport getrieben wurde und die Ernährung ungesünder war“, sagt Kurth. So nahmen die Ostdeutschen mehr Wurst und Limonade und weniger Obst und Milchprodukte zu sich als die Westdeutschen. Nach der Wende geborene Kinder sind in Ost und West gleich häufig fettleibig. Hier hat allerdings der Westen aufgeholt. „Manchmal findet die Annäherung leider auf dem schlechteren Niveau statt.“

Dabei muss das schlechtere Niveau nicht immer das ostdeutsche sein. Denn die Bundesbürger waren nicht in allem besser dran. So hatten Frauen in Ostdeutschland unmittelbar nach der Wende seltener Brustkrebs. Ursache ist vermutlich die höhere Geburtenrate, denn je mehr Kinder Frauen zur Welt bringen, um so niedriger ist ihr Risiko an Brustkrebs zu erkranken. „In Westdeutschland war 1990 aber schon die Einkindfamilie das Übliche und die Frauen waren bei der Geburt ihres ersten Kindes älter“, sagt Kurth. Ostdeutsche Frauen haben auch weniger geraucht, als ihre westdeutschen Altersgenossinnen und litten deswegen seltener an Lungenkrebs.

Die Mauer war auch für Infektionskrankheiten ein Hindernis. Die Zahl der HIV-Infektionen war in den neuen Bundesländern niedriger. Dasselbe gilt für Masern. Denn in der DDR bestand für Masern eine Impfpflicht. Wegen der höheren Durchimpfungsrate kommt es dort nun seltener zu Masernausbrüchen.

Ob das so bleibt, ist ungewiss. „Man hat sich nicht genügend bemüht, den positiven Impfgedanken, der in den neuen Bundesländern vorhanden war, aufrecht zu erhalten“, sagt Kurth und spricht von einer verpassten Chance. Die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, ist in den neuen Bundesländern zwar immer noch höher als in den alten. Das kann man zurzeit etwa bei der Schweinegrippe beobachten. „Aber diese Befürchtungen, dass Impfen Kinder krank machen könnte, die infizieren jetzt auch den Osten“, sagt Kurth.

Auch bei den Allergien nehmen die Krankheiten im Osten zu. Als die Forscher vom RKI 1990 die erste Gesundheitsbefragung im Osten starteten, waren sie äußerst erstaunt, dass Allergien dort viel seltener waren als im Westen. „Wir dachten zuerst: In Westdeutschland spricht man halt mehr über Allergien, da glaubt man dann auch öfter, sie wirklich zu haben“, sagt Kurth. Aber Tests bestätigten das Bild: Allergien waren in Ostdeutschland in allen Altersgruppen seltener. „Das begann mit dem Jahrgang 1949 und ging dann immer weiter auseinander.“ Heute trete etwa Heuschnupfen bei jungen Menschen in Ost und West wieder gleich häufig auf, sagt die Expertin und beruft sich auf die jüngste Untersuchung von 18 000 Kindern und Jugendlichen von 2003 bis 2006.

Als möglichen Grund sieht sie die Schmuddelkindtheorie. Kinder hätten früher in den neuen Bundesländern mehr Geschwister gehabt und seien in Kitas früher mit anderen Kindern in Kontakt gekommen. Dadurch sei das Immunsystem stärker gefordert worden und es sei seltener zu Überreaktionen etwa gegen Pollen oder Lebensmittel gekommen.

Trotz dieser Negativbeispiele bleibt der Mauerfall auch gesundheitlich eine Erfolgsgeschichte. Dass dafür vor allem die alten Bundesländer nötig waren, lässt sich an unseren Nachbarn belegen. Polen und Tschechen hatten zur Wendezeit eine ähnliche Lebenserwartung wie DDR-Bürger. Sie haben aber einen geringeren Anstieg zu verzeichnen. „Dabei dürften die Verhaltensänderungen kaum anders gewesen sein“, sagt Kurth. Solidaritätsbeitrag und Aufbau Ost dürften also auch bei der Gesundheit eine Rolle gespielt haben.

Viele der Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern sind inzwischen so gering, dass sie hinter anderen Unterscheidungen verschwinden. So ist die Lebenserwartung von Frauen in Sachsen deutlich höher als im Saarland. Und Mecklenburg-Vorpommern ist zwar in vielen Gesundheitsrankings das Schlusslicht. „Aber in manchen armen Gegenden von Nordrhein-Westfalen sieht es nicht besser aus“, weiß Kurth. Ein weiterer Ost-West-Bericht wird daher wohl nicht nötig sein, sondern ein Bericht über arme und reiche Bundesländer.

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