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Haiti: Warten auf das nächste Beben

Nach Ansicht eines Experten ist das Risiko in Haiti größer als gedacht. Umso wichtiger sei es, die Bauvorschriften zu befolgen.

Fünf Wochen sind seit dem verheerenden Erdbeben auf Haiti vergangen. Die meisten Reporter sind inzwischen abgereist, das Schicksal der Menschen in dem armen Land droht wieder in Vergessenheit zu geraten. Bis zum nächsten Erdbeben. „Es ist keine Frage ob, sondern lediglich wann das passieren wird“, schreibt der Seismologe Roger Bilham in einem Beitrag für das Fachblatt „Nature“ (Band 463, Seite 878).

Der Forscher von der Universität von Colorado in Boulder war einer der ersten Experten, die das Erdbebengebiet nach der Katastrophe vom 12. Januar besuchten. Seine Bilanz ist alarmierend. Das Risiko für weitere Erdbeben in der Region ist offenbar größer als bisher gedacht. Sie könnten zudem um einiges stärker sein als das jüngste Beben mit einer Stärke von 7,0, das offiziellen Angaben zufolge rund 230 000 Menschen das Leben kostete. Nicht nur beim Wiederaufbau der zerstörten Hauptstadt Port-au-Prince seien deshalb erdbebensichere Konstruktionen unabdingbar, schreibt Bilham. Das Problem besteht weltweit. „Die rapide Bevölkerungszunahme führt dazu, dass derzeit mehr Gebäude errichtet werden als je zuvor. Die Erfahrungen aus den letzten Beben zeigen, dass diese zu Massenvernichtungswaffen werden können.“ Er fordert daher, dass die Vereinten Nationen eine neue Art von Auslandseinsätzen starten: Unabhängige Gutachter, die vor Ort überwachen, dass neue Gebäude bebensicher sind.

Das betrifft alle die Regionen, die auf den Rändern der Erdplatten liegen. Zum Beispiel Japan, Kalifornien, Indonesien und die Türkei. Auch die Karibik liegt in so einer Gefahrenzone. Gerade an der Enriquillo-Verwerfung im Süden Haitis, wo unlängst die Erde erzitterte, könnte es in absehbarer Zeit erneut starke Erschütterungen geben, vermutet Bilham.

Berechnungen von Seismologen haben ergeben, dass die beiden Erdplatten an dieser Verwerfung bei dem Beben in der Tiefe um zwei Meter gegeneinander versetzt wurden. Je weiter man sich von dem Erdbebenherd entfernt, desto geringer wird der Versatz. Denn die Erdkruste kann sich ein wenig verbiegen und so Energie aufnehmen. Deshalb sieht es an der Oberfläche in der Regel so aus, als wären die Erdplatten um eine kürzere Distanz versetzt. Messen lässt sich das etwa an Rissen in Straßen, verschobenen Gartenzäunen oder Erdwällen.

Entgegen aller Erwartungen konnte Bilham über der Enriquillo-Störung aber überhaupt keinen Versatz im Gelände erkennen. „Das bedeutet, dass ein Teil der Energie noch immer in der obersten Erdschicht gespeichert ist und weitere Erschütterungen hervorrufen kann“, schreibt er.

Andernorts in Haiti sind die markanten Geländeformen aber durchaus zu sehen, sie stammen von früheren Beben. Das bedeutet nach Ansicht Bilhams, dass diese früheren Erschütterungen noch stärker als die vom 12. Januar waren. Die jetzt bekannt gewordene Wucht ist also nicht das Maximum dessen, worauf man sich in der Karibik einstellen muss.

Mehr noch, wenn es auch früher starke Erdbeben gab, die keine Spuren an der Oberfläche hinterließen, dann zittert die Erde in der Gegend womöglich häufiger als man bisher vermutete, schreibt der Seismologe. Das Risiko für künftige Katastrophen wäre folglich noch größer. Ob diese erste Annahme korrekt ist, müssen jedoch weitere Untersuchungen zeigen.

Informationen darüber, wie oft und mit welcher Stärke Erdbeben in einzelnen Gebieten auftreten, sind wichtig für Gefährdungsanalysen. „Aber nicht allein“, sagt Jochen Zschau vom Geoforschungszentrum Potsdam. „Der zweite Faktor ist die Vulnerabilität, die angibt, wie sehr die Gesellschaft durch eine Naturkatastrophe getroffen werden kann.“ Dazu zählen nicht nur einstürzende Gebäude, sondern etwa auch zerstörte Stromleitungen, die selbst die Volkswirtschaft in anderen Landesteilen treffen.

„Es gibt heute nicht mehr und nicht heftigere Beben als früher“, stellt Zschau klar. „Aber die Vulnerabilität nimmt deutlich zu.“ Alle 15 Jahre verdoppele sich die Einwohnerzahl der Megacities in der dritten Welt, alle sieben Jahre die Zahl der illegal errichteten Bauten. Der Wissenschaftler rechnet deshalb in den Entwicklungsländern künftig mit mehr Opfern von Naturkatastrophen. Dieser Trend sei in den Statistiken bereits erkennbar.

„In den Industrienationen, die mehr Geld und Technik für Erdbebenvorsorge aufwenden, sind die Opferzahlen rückläufig“, sagt Zschau. „Stattdessen nehmen die wirtschaftlichen Schäden zu.“ Im dicht vernetzten Wirtschaftsgefüge können einzelne Katstrophen globale Folgen haben. Würde das Tokio-Beben von 1923 heute erneut auftreten, entstünden Schätzungen zufolge Schäden von 2000 Milliarden Dollar, sagt er. „Das sind Beträge, die die Weltwirtschaft erschüttern können.“

Vor allem in den armen Ländern, wo Menschenleben bedroht sind, müsse die Katastrophenvorsorge wie erdbebengerechtes Bauen dringend verbessert werden, sagt Zschau. Entsprechende Vorschriften gibt es zwar, doch sie werden nur selten durchgesetzt. „Um das zu ändern, muss die gesamte Bevölkerung für die Gefahr sensibilisiert werden, damit sie selbst den nötigen Druck gegenüber Behörden aufbaut.“ Gerade bei Erdbeben ist das aber schwierig. Anders als zum Beispiel Vulkane, die immer mahnend im Blickfeld der Menschen sind, kommen die Erschütterungen aus dem Nichts. Und sie treten oft nur alle paar Jahrezehnte auf, so dass die schlimmen Erinnerungen verblassen – und mit den älteren Zeugen sterben. Ralf Nestler

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