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Weites Arbeitsfeld. Hans-Ulrich Wehler 1994 an seinem Schreibtisch.

© ullstein bild - Teutopress

Hans-Ulrich Wehler wird 80: Die Deutschen durchschaut

Er lernte mit Habermas, verehrte Max Weber und provozierte mit Thesen zum Islam. Vor allem aber hat der Historiker Hans-Ulrich Wehler den Deutschen erklärt, wer sie sind. Nun wird er 80.

Kaum als Zufall, sondern eher wie die "invisible hand" der Geschichte erscheint, dass der Historiker Hans-Ulrich Wehler auf demselben Gymnasium war wie Jürgen Habermas. Beide besuchten die Schule im bergischen Gummersbach vor und nach dem deutschen Epochenschnitt schlechthin, dem Jahr 1945. Wehler und Habermas sind Fixsterne in der Debatte der bundesrepublikanischen Selbstvergewisserung: der zwei Jahre ältere Habermas kometenhaft früh, Wehler erst mit der Bestallung als Professor in Bielefeld 1971.

In dieser Reform-Universität erkannte Wehler die gute Seite der Bundesrepublik. Er musste sich, anders als sein Schulkamerad, nicht erst über den Umweg einer Kritischen Theorie der westdeutschen Normalität annähern. Wehler stand immer mittendrin. Übermorgen, am 11. September, feiert der Historiker seinen 80. Geburtstag.

Die Geschichtsschreibung, zunächst die bundes- und dann die gesamtdeutsche, ist ohne Wehler gar nicht mehr vorstellbar. Als Haupt der „Bielefelder Schule“ der Sozialgeschichte führte er gemeinsam mit Jürgen Kocka, dem späteren Präsidenten des Wissenschaftszentrums Berlin, die deutsche Geschichtswissenschaft endgültig aus ihrer fatalen Verklammerung mit den braunen Jahren. Die hatte Wehler an seinem Kölner Doktorvater Theodor Schieder in persona erlebt. Der Zeithistoriker Wehler wurde zum Zeitdiagnostiker, mischte sich stets ins Tagesgeschäft der Politik- und Gesellschaftsdebatten. So endet der fünfte Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“, mit dem er vor drei Jahren das ohnehin schon monumentale Werk von bis dahin 4200 Druckseiten mit weiteren 529 bis an die unmittelbare Gegenwart der deutschen Wiedervereinigung herangeführt hatte, mit Forderungen an die Politik, die deutlicher und drängender nicht sein können. „Im neuen Jahrhundert wird erst recht die satte treitschkeanische Selbstzufriedenheit, im Westen wieder angekommen zu sein und eigentlich keiner Systemreformen zu bedürfen, nicht genügen“, gibt Wehler den zuvor aufgezählten Missständen insbesondere der Bildungspolitik ihre Perspektive. Abgesehen davon, dass in diesem Satz noch ein hübscher Seitenhieb auf einen gleichfalls berühmten Kollegen steckt, verbirgt sich darin in nuce das Geschichtsverständnis Wehlers: Geschichte ist nur insoweit der näheren Beschäftigung wert, als sie Maßstäbe für die Gegenwart liefert und Leitlinien für die Zukunft.

Wehlers wissenschaftlicher Aufstieg war steinig, erst die zweite Habilitationsschrift wurde von der Fakultät der Kölner Universität angenommen, und auch das nur ungnädig. Über den Imperialismus zu forschen, zumal in der Verbindung mit dem Namen Bismarck, war alles andere als opportun. Wehler reihte sich damit würdig ein in die Riege damals junger Historiker, die mit der zur Rechtfertigungsideologie verkommenen deutschen Geschichtsschreibung aufräumten.

Max Weber wurde, wie für so viele seiner Generation, auch für Wehler ein Leitstern. Und wenn im vierten Band seiner „Gesellschaftsgeschichte“ das Charisma Hitlers zur Erklärung herangezogen, wenn gar der „Leistungsfanatismus“ des Nationalsozialismus als Antriebsquelle des westdeutschen Wiederaufbaus gesehen wird, dann ist Webers fortwirkender Einfluss erkennbar. Sein unvollendetes und posthum so betiteltes Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ hatte Weber einst als „Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte“ konzipiert. Webers Arbeitstitel ist gewissermaßen der rote Faden für den Aufbau von Wehlers Gesellschaftsgeschichte. Wehler ist mehr Soziologe, als Historiker früher zugestehen mochten, und mehr Historiker, als die Soziologie goutierte.

Fragestellungen wie die nach der gesellschaftlichen Ungleichheit, die Wehler immer und immer wieder untersuchte und als zu korrigierende „sozialökonomische Disparitäten“ weiterhin der Politik zur Aufgabe stellt, reklamiert die Soziologie für sich als ureigenes Terrain. Was Wehler dazu auf 127 Seiten des entsprechenden Kapitels in Band 5 seiner Gesellschaftsgeschichte zu sagen hat, ersetzt allerdings ungezählte Studien der bundesdeutschen Soziologie, die im Lichte der Wehler’schen Forschungswut geradezu um ihre Existenzberechtigung fürchten muss. Dass Wehler dabei Helmut Schelskys These von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ als „Illusion“ abfertigt, spricht nicht für Hochnäsigkeit, sondern für den sicheren Zugriff auf das unabweisbare Faktenmaterial.

Ein Bücherwurm, der urteilen und debattieren will - lesen Sie mehr auf Seite 2.

Gefürchtet ist Wehler nicht nur wegen seiner Formulierungsgabe, sondern vor allem wegen seiner unfasslichen Materialbeherrschung. Die Zahl der von ihm aufgesogenen Bücher wird fünfstellig geschätzt, die der durchgeackerten Archive dürfte ähnlich ehrfurchtgebietend sein. Und mit eigenen Werken hat er selbst ganze Bibliotheken gefüllt. Aber vom Wissen allein hat Wehler sich nie überwältigen lassen. Ihn reizt die Urteilsbildung, die auf dem Fundament der Forschung aufsitzt.

Insbesondere die „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ spiegelt in ihrem langen Veröffentlichungszeitraum von 1987 bis 2008 die jeweilige geistige Lage der Bundesrepublik, die für Wehler, egal ob als westdeutscher Teilstaat oder um die von ihm äußerst gering geschätzte DDR erweitert, stets den Bezugspunkt abgab. Das gilt ebenso für seine Zuspitzungen, die ihn, wie im Falle des Historikerstreits 1986, denn auch gelegentlich in die polemische Irre führen.

Seit einiger Zeit ruft Wehlers zunehmend negative Beurteilung von Islam und Integration im intellektuellen Milieu heftiges Stirnrunzeln hervor. So erklärte er kategorisch, beim Islam handele es sich „um einen militanten Monotheismus, der seine Herkunft aus der Welt kriegerisch-arabischer Nomaden nicht verleugnen“ könne. Und der bundespräsidentiellen These des vorigen Jahres, auch der Islam gehöre zu Deutschland, hielt er entgegen, „unsere politischen Grundwerte und unsere Kultur“ seien „in keiner Weise vom Islam geprägt worden“.

Vielleicht ist Wehler mehr ein Mann der alten Bundesrepublik, als es bei seiner Debattierfreude scheinen mag. Diese Bundesrepublik, „in der die große Mehrheit der Deutschen lebte, verkörperte von Anfang an einen lebens- und zukunftsfähigen Neustaat, in dem sich alle wesentlichen Modernisierungsprozesse – ob in der Politik und in der Wirtschaft, ob im Recht und in der Kultur – durchzusetzen vermochten, da ihnen eine nachhaltige Förderung zustatten kam. Die DDR dagegen existierte 40 Jahre lang nicht aus Eigenrecht, sondern als eine sowjetische Satrapie, die in letzter Instanz auf den russischen Bajonetten beruhte.“ Da kommt, nicht altersmilde, sondern erfahrungsgesättigt, die Emphase zum Durchbruch, die den Gummersbacher Gymnasiasten in die Aufbruchszeit nach dem Nazi-Regime begleitet hatte.

Den Weg nach Westen musste Wehler nicht suchen, er ging ihn bereits als einer der frühen Fulbright-Stipendiaten beim Studienjahr in den USA. Auch darin verkörpert er geradezu idealtypisch die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte. Er wurde ihr Interpret, gerade weil er die deutsche Geschichte des Vierteljahrtausends zuvor überblickt, die auf dieses Nachkriegsdeutschland hingeführt hat, seine Politik, seine Wirtschaft und zuallererst seine Gesellschaft.

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