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Susanne Schreiber in ihrem Büro auf dem Campus Nord.

© M. Heyde

Humboldt-Universität zu Berlin: Denken bei Hitze und Kälte

Susanne Schreiber erforscht an der Humboldt-Universität, wie das Nervensystem bei unterschiedlichen Temperaturen funktioniert.

Einen kühlen Kopf zu bewahren, ist immer eine gute Idee. Für Susanne Schreiber, Professorin an der Humboldt-Universität und dem Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience Berlin, hat diese Redensart allerdings auch eine wortwörtliche Bedeutung. Denn in ihrer Forschung dreht sich sehr vieles um Temperatur und Nervensysteme. Die Temperatur beeinflusst die Reaktionsgeschwindigkeit von chemischen Prozessen und somit auch von biologischen Systemen. Auch wenn sie bei Säugetieren recht konstant gehalten wird, kann es zu kleinen Schwankungen kommen – durch Fieber, Sport oder einfach durch heißes Duschen. Wie reagiert dann das Gehirn?

„Wir denken durchaus, dass Temperaturschwankungen im Gehirn bei Säugetieren bis hin zum Menschen relevant sind“, sagt die theoretische Neurowissenschaftlerin. So gibt es beispielsweise Epilepsien, bei denen die Temperatur eine Rolle spielt: Fieberkrämpfe bei Kindern oder Heißwasserepilepsien, die bei manchen Menschen auftreten, wenn sie zu heiß baden oder anders den Kopf erwärmen.

Im mathematischen Modell untersuchte die Wissenschaftlerin mit ihrer Arbeitsgruppe die Temperaturabhängigkeit der elektrischen Aktivität von Nervenzellen und entdeckte einen kritischen Punkt, an dem sich die Dynamik der Nervenzellen radikal umstellt. Ab einer bestimmten Temperatur tendieren Zellen dann stärker dazu, ihre Aktivität an Nachbarneurone anzupassen und zu „synchronisieren“, wie wenn ein Publikum beim Applaus auf einmal einen gemeinsamen Rhythmus findet. Eine solche synchrone neuronale Aktivität ist charakteristisch für Epilepsien. „Die temperaturabhängige Synchronisation könnte dazu beitragen, einen epileptischen Anfall auszulösen.“

Bei Fieber oder einem heißen Bad sind die Temperaturveränderungen im Gehirn nicht sehr groß. Umso erstaunlicher ist, dass sie einen epileptischen Anfall hervorrufen können. „Um wirklich zu verstehen, wann kleinste Veränderungen eine so große Wirkung entfalten können, hilft es, wenn man die Frage von der Theorie her angeht“, sagt die Forscherin. Es bleibt aber nicht beim mathematischen Modell. In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern an der Berliner Charité soll die Theorie auch experimentell überprüft werden.

Wie lange braucht ein neuronales Signal?

Susanne Schreiber, die ihr Faible für Mathematik in der Schule entdeckt hat, studierte Biophysik an der Humboldt-Universität und forschte für ihre Diplomarbeit an der britischen University of Cambridge. Ihre Doktorarbeit absolvierte sie zum Teil in den USA und an der HU. Sie ist Trägerin des Bernstein-Preises für Computational Neuroscience, der es ihr ermöglichte, eine eigene Arbeitsgruppe am Institut für Biologie der HU aufzubauen. Ihre aktuelle Forschung zur Temperatur wird durch ein Programm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.

Computational Neuroscience befasst sich mit der Entwicklung mathematischer Modelle neuronaler Prozesse. Erst dadurch wird es möglich, quantitative Fragen zu stellen und zu überprüfen. Wie lange braucht ein neuronales Signal? Wie wirkt sich eine molekulare Veränderung auf eine Nervenzelle oder gar ein ganzes neuronales Netzwerk aus? Das Nervensystem ist so komplex, dass sich solche Vorhersagen nicht einfach mit Papier und Bleistift treffen lassen – dazu braucht man Computermodelle.

Diese sollten die biologische Realität möglichst gut abbilden. Daher arbeitet Susanne Schreiber eng mit experimentellen Neurowissenschaftlern aus sehr unterschiedlichen Bereichen zusammen. Solche interdisziplinären Projekte sind anspruchsvoll und dauern lange, denn es sind viele Wissenschaftler aus unterschiedlichen Fachkulturen involviert. „Man muss sich gut verstehen und eine ähnliche Denkweise haben, damit es funktioniert“, erklärt sie. Aber es lohnt sich. „Es ist viel wertvoller und spannender, wenn man nicht nur einen theoretischen Effekt hat, sondern ihn auch experimentell überprüft.“

"Die Evolution hat Nervensysteme hervorgebracht, die robust funktionieren"

Um mehr über Temperaturschwankungen im Gehirn zu erfahren, befasst sie sich in ihrer Forschung nicht nur mit Säugern, sondern auch mit Insekten, genauer gesagt mit Grashüpfern. Während die Temperatur im Gehirn von Säugetieren nur wenig variiert, haben es wechselwarme Tiere wie Grashüpfer mit viel größeren Schwankungen zu tun. Das Nervensystem ist ein hochkomplexes Netzwerk von perfekt aufeinander abgestimmten Zellen. Man kann sich gut vorstellen, dass kleine Änderungen der Aktivität einzelner Zellen das ganze System durcheinanderbringen können. „Die Evolution hat aber Nervensysteme hervorgebracht, die trotz Schwankungen in der Temperatur robust funktionieren. Ich finde gerade diese Kombination von Funktion und evolutionären Randbedingungen spannend“, sagt Schreiber.

Grashüpfer müssen bei unterschiedlichen Temperaturen ähnlich gut hören. Dies ist für die Arterhaltung enorm wichtig, denn Grashüpferweibchen wählen den richtigen Paarungspartner anhand der Gesänge ihrer männlichen Artgenossen aus. Rezeptorneurone, die akustische Signale in elektrische Signale umsetzen und an das Gehirn weiterleiten, können Temperaturschwankungen zum Teil ausgleichen. Diese Fähigkeit hat die Arbeitsgruppe von Schreiber zusammen mit Bernhard Ronacher, Biologe und Seniorprofessor an der HU, untersucht.

Zwar laufen die Prozesse, die in Rezeptorzellen einen elektrischen Nervenimpuls auslösen, bei höheren Temperaturen schneller. Gleichzeitig verändert sich aber die Zelle so, dass es schwieriger wird, einen Impuls zu produzieren. Auf diese Weise heben sich temperaturabhängige Veränderungen teilweise auf. „Es gibt sehr unterschiedliche Arten, wie eine Temperaturkompensation prinzipiell erreicht werden kann“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Die Strategie der Rezeptorneurone ist nur eine Möglichkeit von vielen.“ Eine andere Möglichkeit besteht darin, verschiedene Nervenzellen im Netzwerk so geschickt zu kombinieren, dass sich ihre Temperaturabhängigkeiten ausgleichen. Auch diese Strategie scheint nach Schreibers Erkenntnissen im Hörsystem der Grashüpfer eine Rolle zu spielen.

Ob Grashüpfer oder Fieberkrämpfe: Sie schaut genau hin

Ob es sich nun um Grashüpfer oder Fieberkrämpfe handelt, die Forscherin zeichnet aus, dass sie genauer hinschaut und Dinge hinterfragt, die andere vielleicht für gegeben hinnehmen: Warum ist das so? Kann es nicht anders sein? Dabei kommt ihr zugute, dass sie sich mit sehr unterschiedlichen Tieren befasst. „Die verschiedenen Bereiche meiner Arbeit befruchten sich gegenseitig“, sagt sie. Wenn sie in ihren Arbeiten mit Insekten etwas beobachtet, was in Säugern anders ist, hinterfragt sie den Grund. Es sind oft diese grundlegenden Beobachtungen, die Art, nichts für selbstverständlich zu nehmen, welche ihrer Forschung Originalität verleihen.

Will man das Nervensystem in seiner ganzen Komplexität verstehen, müssen Theorie und Experiment Hand in Hand gehen. Dazu bietet das Bernstein Zentrum Berlin, wo Susanne Schreiber von Anfang an mit von der Partie war, die besten Voraussetzungen. Das Zentrum geht auf eine Förderinitiative des BMBF zurück. Erst kürzlich haben es Charité – Universitätsmedizin Berlin, Humboldt-Universität und Technische Universität Berlin mit einem Kooperationsvertrag verstetigt, so dass die über Jahre aufgebauten Strukturen langfristig erhalten bleiben. Um den Forschungsbereich Computational Neuroscience an der HU fest zu verankern und das Bernstein Zentrum zu unterstützen, wurde Ende 2016 das „Interdisziplinäre Zentrum Computational Neuroscience“ eingerichtet.

Der Artikel ist am 14.Oktober 2017 in einer Beilage der Humboldt-Universität zum Start des Wintersemesters 2017/2018 erschienen.

Katrin Weigmann

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