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Identitätsstörung: Im falschen Geschlecht gefangen

Die Überzeugung von Menschen, ihr biologisches Geschlecht sei das falsche, heißt Transsexualität. Eine Geschlechtsumwandlung kann sie von ihrem Leiden befreien. Doch ist das auch für Kinder der richtige Weg?

Es ist ein Junge! Es ist ein Mädchen! „Hebammengeschlecht“ nennen Sexualmediziner oft etwas flapsig diese erste Zuordnung, die ein Neugeborenes im Kreißsaal erfährt. Die überwältigende Mehrheit der Heranwachsenden hat später kein Problem damit: Diese Kinder sind sicher, ein Mädchen oder ein Junge zu sein, und sie sind damit völlig einverstanden. „Geschlechtsidentität ist die klare innere Gewissheit und das überdauernde Erleben der eigenen Person als männlich oder weiblich“, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater und Sexualmediziner Alexander Korte von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Bei einem von 100 Kindern ist diese Gewissheit zumindest zeitweise gestört, und zwar häufiger bei Jungen als bei Mädchen.

Korte und seine Kollegen werden dann von Familien konsultiert, in denen sich die Eltern Sorgen machen: Ihre Tochter besteht darauf, in Wirklichkeit ein Junge zu sein, ihr Sohn ist fest davon überzeugt, bald zur Frau heranzureifen und dann endlich sein verhasstes männliches Geschlechtsorgan zu verlieren.

Anders als bei der Intersexualität sind hier die körperlichen Anlagen eindeutig. Die Überzeugung von Erwachsenen, ihr biologisches Geschlecht sei das falsche und entspreche ihnen nicht, heißt Transsexualität. Eine Geschlechtsumwandlung mit Hormonen und Operationen kann sie von ihrem Leiden befreien, indem sie ermöglicht, in dem von ihnen als richtig empfundenen Körper zu leben.

Doch ist das für ein Kind der richtige Weg, bei dem die Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung (GIS) gestellt wurde? Betrachtet man die Frage medizinisch, dann muss man sagen: Schon vor Eintritt der Pubertät mit der Hormonbehandlung zu beginnen, erleichtert den Weg der Umwandlung. Mit Wirkstoffen, die dem Hormon LHRH ähneln, kann man die Bildung von Sexualhormonen stoppen, so dass einen Jungen, der sich wünscht, eine Frau zu werden, weder Bartwuchs noch Stimmbruch unglücklich machen.

Mit dieser Behandlung werden noch keine vollendeten Tatsachen geschaffen, es wird nur eine Entwicklungsbremse gezogen, die jederzeit wieder gelöst werden könnte. Die zweite Stufe kann später in der Einnahme von Östrogenen für gebürtige Jungen und Androgenen für gebürtige Mädchen bestehen: Damit ist der Weg zur Umwandlung beschritten, die durch Operationen vervollständigt wird.

Viele erwachsene Transsexuelle, die inzwischen in ihrem erworbenen Geschlecht glücklich sind, hätten sich diesen biologisch leichteren frühen Weg für sich selbst gewünscht. „Es gibt Biografien, bei denen würde man sich im Rückblick eine frühere Behandlung wünschen“, sagt die Ärztin Renate Försterling, die Transsexuelle betreut.

Doch wie können Eltern, Ärzte und Psychologen sicher sein, dass das auch für den Elfjährigen gilt, der sich sehnlich wünscht, einmal eine Frau zu werden und seit vielen Jahren am liebsten rosa Kleider trägt? Nur in 2,5 bis höchstens 20 Prozent der Fälle sei eine GIS der Anfang einer unumkehrbaren transsexuellen Entwicklung, berichtete Korte kürzlich bei einer Fachtagung der Vivantes-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bei welchem Kind es so sein wird, kann keiner vorhersagen. „Wir verfügen über keinen Test, der uns darüber Auskunft geben würde“, sagte Korte, der in der Spezialsprechstunde der Berliner Charité für GIS-Kinder tätig war, bevor er nach München wechselte. In Berlin wird die Arbeit jetzt von einem Netzwerk für Sexualmedizin im Kindes- und Jugendalter weitergeführt, das Charité und Vivantes gemeinsam betreiben. Auch was die Ursachen betrifft, tappen die Forscher zumindest noch im Halbdunkel. Auf der biologischen Ebene wird diskutiert, dass bei Jungen, die Mädchen sein wollen, eine auf das Gehirn begrenzte Unempfindlichkeit gegen männliche Hormone vorliegen könnte. Aus der Lerntheorie kommt die Annahme, dass manchmal ein uneingestandener elterlicher Wunsch hinter der GIS stecken könnte.

Spielt väterliche Gewalt in der Familie eine Rolle, dann könnte ein Mädchen sich die männliche Rolle wünschen, um sich selbst und die Mutter vor dem Vater zu schützen. Gerade bei Mädchen verliert sich der Wunsch, ein Mann zu werden, oft in der Pubertät. Vielleicht auch, weil sie nach und nach erkennen, dass sie als Frau heute viele Rollen einnehmen können. Auffallend ist, dass eine GIS häufig mit anderen psychischen Auffälligkeiten des Kindes und mit Störungen der Beziehung zu den Eltern einhergeht.

Wie bei dem 17-Jährigen, von dem Jochen Gehrmann vom St. Annastiftskrankenhaus in Ludwigshafen berichtete. Dorthin kam der junge Mann nach einem Versuch, sich das Leben zu nehmen. Der Sohn strenger Eltern litt unter der Angst, schwul zu sein. „Jugendliche wie er können es eher mit ihrem Selbstbild vereinen, im ‚falschen‘ Geschlecht zu stecken, also eigentlich eine Frau und heterosexuell zu sein, als sich homosexuelle Wünsche einzugestehen.“ Psychotherapie kann ihnen den Weg dazu ebnen.

Korte fürchtet allerdings, dass solche Entwicklungen abgeschnitten werden, wenn Ärzte die Hormonbremse schon bei Zwölfjährigen ziehen. „Weil sie keine sexuellen Wünsche entwickeln, wird das Sammeln altersspezifischer Erfahrungen verhindert. Erfahrungen, die für die homosexuelle Identitätsfindung entscheidend sind, werden deshalb nicht gemacht.“ Gehrmanns Patient konnte sie sammeln. Inzwischen hat er Abitur gemacht und ist zum Studium nach Berlin gezogen. Als erwachsenem Großstädter gelingt es ihm, sich als Mann zu fühlen, der sich zu Männern hingezogen fühlt.

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