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Interview: „Disziplinen können voneinander lernen“

Literaturwissenschaft als Hirnforschung: der Marburger Philologe Thomas Anz zum Wandel der Germanistik.

Herr Anz, der Germanistentag will sich in diesem Jahr der Herausforderung durch die Naturwissenschaften stellen. Warum müssen sich Germanisten mit Neurophysiologie, Kognitionspsychologie oder Evolutionsbiologie beschäftigen?

Das sind Wissenschaften, die in jüngster Zeit an die Philosophie und andere Geisteswissenschaften erhebliche Ansprüche stellen. Aber dieser Trend hat auch etwas mit den Gegenständen der Germanistik zu tun. Wenn man einen Text liest, dann sind damit neurologische Vorgänge und Prozesse der Informationsverarbeitung verbunden. Da geben uns die Neurophysiologen und die Kognitionspsychologen doch etliche Anregungen. Andererseits können diese naturwissenschaftlichen Disziplinen von der Literatur- und Sprachwissenschaft sehr viel lernen.

Wer ist in diesem Dialog engagierter: die Geisteswissenschaftler oder die Hirnforscher?

Nehmen Sie die Erzählforschung, die lange Zeit eine Domäne der Literaturwissenschaft war: Gerade in der amerikanischen Evolutionsbiologie gibt es ein großes Interesse daran. Die interessieren sich dafür, wie Informationen in Form von Geschichten verarbeitet werden. Es gibt heute allerdings auch viele Naturwissenschaftler, die sich eher dilettantisch in das Gebiet der Ethik, der Philosophie, der Geisteswissenschaften begeben. So wie wir uns den Naturwissenschaften oft dilettantisch nähern. Dieser Germanistentag ist ein Versuch, unterschiedliche Kulturen zusammenzuführen.

Die Germanistik widmet sich derzeit verstärkt der Emotionsforschung. Was bringt der „emotional turn“?

Im Grunde wissen wir seit Aristoteles, dass Literatur und Sprache eminent viel mit Emotionen zu tun haben. Sie dienen nicht nur dem Ausdruck von Gedanken, sondern auch dem Ausdruck von Emotionen, und sie dienen auch in hohem Maße dazu, andere zu emotionalisieren. Das hat in der Literaturwissenschaft zu einer Art der Einfühlung geführt, die relativ unwissenschaftlich war. Aber inzwischen bringt die Emotionsforschung große interdisziplinäre Forschungsverbünde hervor, wie etwa im Elitewettbewerb den Clusterantrag zu „Languages of Emotion“ der Freien Universität Berlin.

Gleichzeitig gibt es in den Geisteswissenschaften eine Bewegung „zurück zu den Disziplinen“. Können Sie dem folgen?

Das wird unter dem Stichwort Rephilologisierung diskutiert: Man will zurück zu den philologischen Grundfertigkeiten. Ich verstehe das zum Teil, die Ausflüge der Literaturwissenschaft in andere Disziplinen können durchaus zur Folge haben, dass darüber die eignen Grundkompetenzen vernachlässigt werden. Falsch wäre es aber, Alternativen aufzubauen: grundsolides Handwerk oder Ausweitung der Perspektiven! Man muss beides miteinander verbinden. Wir können auch als Literaturwissenschaftler nicht hinter der Literatur zurückbleiben, die ja ständig Anleihen bei den Naturwissenschaften nimmt, wie Durs Grünbein zum Beispiel.

Diskutiert wird das jetzt auf vielen Podien im Jahr der Geisteswissenschaften. Wie bewerten Sie das Wissenschaftsjahr drei Monate vor seinem Ende?

Der Journalismus hat mit großen Artikelserien sehr viel getan zur Publizität der Geisteswissenschaften. Und die Wissenschaftspolitik sieht sich offenbar unter Druck, die Geisteswissenschaften bei der Forschungsförderung gegenüber den Sozial- und Naturwissenschaften weniger stiefmütterlich zu behandeln. Vielleicht gibt es im Oktober ja sogar einen Bonus im Exzellenzwettbewerb, in dem wir bislang kaum Erfolge aufweisen können.

Früher fühlten sich die Germanisten als Hüter der Nationalkultur, seit einigen Jahren wird ihr Bedeutungsverlust beklagt. Entwickelt sich heute ein neues Rollenverständnis?

Die Germanistik ist eine Grundschule der Teilhabe an gesellschaftlicher Kommunikation in deutscher Sprache. Wir bieten eine Ausbildung, die dazu befähigt, sich kompetent mit Texten deutscher Sprache auseinanderzusetzen – und sie auch selber zu schreiben. Das ist der gesellschaftliche Bedarf an der Germanistik.

Wie wirkt sich die Modernisierung der Germanistik im Deutschunterricht an den Schulen aus?

Die Praxisorientierung, die es jetzt im Studium stärker gibt, setzt sich auch in der Schule durch, im handlungs- und produktionsorientierten Unterricht. Die Grundidee, die sich an etlichen Universitäten wie Hildesheim, Leipzig, Bamberg und Marburg durchgesetzt hat: dass man Texte nicht nur analysiert, sondern auch schreibt. Schüler lernen und interpretieren Gedichte nicht nur, sondern schreiben auch selber welche. Und moderner Deutschunterricht sollte Schülern eine kompetente Teilhabe an verschiedenen Formen der medialen Kommunikation vermitteln.

Durch die Profilbildung an den Universitäten gerät auch die Germanistik unter Druck – zulasten der Altgermanistik?

Die Germanistik hat es da noch relativ gut, weil sie ein Massenfach ist. Sie bildet Deutschlehrer aus, und das Personal unserer Medienkultur rekrutiert sich vielfach aus ausgebildeten Germanisten. Die Altgermanistik hat sich gut geschlagen: Sie ist in allen neuen Bachelor- und Master-Studiengängen fest etabliert. Die Altgermanistik ist ja auch ständig mit einer Art Urszene der Literaturwissenschaft konfrontiert: Man stößt auf fremde, unverständliche oder unvollständige Texte – und beginnt zu forschen. Wie viel die Altgermanistik zu bieten hat, weiß die Neugermanistik sehr zu schätzen.

Bald sind Bachelor und Master in der Germanistik flächendeckend eingeführt. Hat das Fach die „Bologna-Kränkung“ – so der Titel eines Vortrages beim Germanistentag – überwunden?

Wir wissen nicht, welchen Effekt die Umstellung haben wird. Wie verhalten sich die BA-Absolventen, machen sie mit dem Master weiter, promovieren sie, brauchen sie dann insgesamt womöglich noch länger als vorher? Ein positiver Effekt steht schon fest: Die Studienabbrecherquote, die bei bis zu 50 Prozent lag, ist rapide gesunken. Die Nachteile sind aber auch in Sicht: Die Universität ist überbürokratisiert mit Prüfungsordnungen und Prüfungen.

Die Germanistik ist eines der Massenfächer mit einem miserablen Betreuungsverhältnis von einem Professor zu 100 bis 250 Studierenden. Muss man Studierenden abraten oder sie gar abschrecken?

Ich würde jedem abraten, ein Fach aus Verlegenheit zu studieren. Die besten Berufsaussichten hat derjenige, der sich fachlich schon während des Studiums sehr engagiert und dann auch sehr gute Ergebnisse erzielt, egal, welches Fach er studiert hat. Im Bachelor gibt es auch den Typus von Studierenden, der so schnell wie möglich in irgendeinen Beruf gehen will und an den berufspraktischen Akzenten der Studiengänge besonders interessiert ist. Das aber ist an der Uni problematisch. Um gut zu sein, muss man schon ein praktisches Interesse mit wissenschaftlichem Interesse verbinden.

Die Fragen stellte Amory Burchard.

THOMAS ANZ (59) organisiert den Germanistentag. Der Professor für Neuere Deutsche Literatur in Marburg ist Vorsitzender der Hochschulgermanistik im Deutschen Germanistenverband.

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