zum Hauptinhalt
Cowboy mit Hausfrau

© Caro

Interview: ''Stereotype Geschlechterbilder schaden''

Der Entwicklungsforscher Wassilios Fthenakis erklärt im Interview mit dem Tagesspiegel, warum Jungen von Mädchen abgehängt werden.

Herr Fthenakis, Jungen gelten als das neue schwache Geschlecht: Sie schneiden schlechter als Mädchen in der Schule ab, haben niedrigere Bildungsabschlüsse und neigen zur Gewalt. Was läuft falsch?

Zunächst mal sind die Jungen biologisch gesehen tatsächlich das schwächere Geschlecht. Das macht auch Sinn: Frauen müssen die Strapazen der Geburt auf sich nehmen, sie müssen die Sicherung der Aufzucht gewährleisten und sie müssen auch biologisch so ausgestattet sein, dass sie für längere Zeit ihren Nachkommen erhalten bleiben. Die Männer haben dagegen – verkürzt gesagt – biologisch nur die Aufgabe, ihre Spermien zu verbreiten. Die Macht der Männer resultiert also nicht aus der Biologie, sondern aus den sozialen und strukturellen Bedingungen in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten. Jetzt, in der postmodernen Gesellschaft, scheinen Mädchen und Frauen Jungen und Männern überlegen zu sein. Wie man mit der Bewältigung von Informationen umgeht – da etwa sind Frauen bei weitem kompetenter als Männer.

Das Thema wird oft so intoniert, als seien die Probleme der Jungen das verheerende Resultat der Frauenemanzipation, als habe sich die Aufmerksamkeit der Erwachsenen nur noch auf die Mädchen gerichtet.

Das ist ziemlich weit hergeholt. Vielmehr wird die gegenwärtige Situation der Jungen durch etliche Faktoren beeinflusst. Ein wichtiger ist der gesellschaftliche Wandel: Man braucht heute andere Kompetenzen als in der Industriegesellschaft. Die postmoderne Gesellschaft zeichnet sich durch eine hohe kulturelle Diversität und eine hohe soziale Komplexität aus. Frauen scheinen auf diese neue Situation viel besser vorbereitet zu sein. Insofern ist die Bedrängnis, in die Jungen und Männer geraten, das Ergebnis sozialer und wirtschaftlicher Wandlungsprozesse. Diese haben Männer selbst gestaltet, jetzt erweisen sie sich für sie als Bumerang.

Könnten Jungen auch Opfer ihrer Privilegierungen sein? Manche Erzieher meinen, Mädchen würde zu Hause mehr Verantwortung abverlangt als den Brüdern, meist ohne dass Eltern sich dessen bewusst seien. Diese Qualität könnten Mädchen in der Schule ausspielen. Ist da was dran?

Durchaus. Wie man sich als Mutter und als Vater verhält, ist nicht allein das Ergebnis individueller Optionen. Es ist vielmehr das Ergebnis sozialer Konstruktionen. Eltern übernehmen also Konzepte, die zwar unausgesprochen, aber in der Gesellschaft nicht weniger stark präsent sind, und geben sie dann an ihre Kinder weiter. Ein solches Konzept ist, Mädchen und Jungen sozial konform zu erziehen. Dies geschieht bei Frauen weitgehend unbewusst. Männer verstärken sogar eine geschlechtstypische Erziehung.

Zum traditionellen Rollenbild des Mannes gehört doch Gelehrsamkeit durchaus. Warum folgen dann so viele Jungen einem anderen Männlichkeitsbild, das ihnen in der Schule Nachteile einbringt?

Jungen bevorzugen ausagierendes oder aggressives Verhalten, um Konflikte zu bewältigen, während Mädchen zur Internalisierung neigen. Man kann es gut beobachten, wenn Kinder unter Druck geraten. Solche Rollenmodelle kommen den Präferenzen von Jungen eher entgegen als sozial angepasste Modelle. Diese Verhaltensmuster erfahren in der Gruppe eine weitere Verstärkung.

Es heißt oft, Lehrerinnen und Lehrer würden Mädchen bevorzugen und selbst bei gleicher Leistung besser beurteilen, weil diese schlicht weniger stören würden.

Auch wenn das gerne verleugnet wird – es gibt eine empirische Evidenz, die dafür spricht, dass Lehrerinnen und Lehrer das eigene Geschlecht bevorzugen. Lehrer verfügen nicht über eine professionelle Kompetenz, mit Unterschieden – mit Geschlechtsunterschieden, aber auch kulturellen und sozialen Unterschieden – angemessen umzugehen.

Wäre es besser, die Geschlechter in der Schule wieder getrennt zu unterrichten?

Das ist sicher der falsche Weg. Nicht die Ausgrenzung löst das Problem, sondern die Auseinandersetzung damit.

Wäre es eine Hilfe, wenn das Lesen stärker an Inhalten geübt würde, die dem Stereotyp nach Jungen interessieren, etwa Technik und Sport?

Ein solcher Versuch weist in die richtige Richtung. Das ist aber bei weitem nicht genug, um dem Problem gerecht zu werden. Worum es heute bei den Jungen geht, sind nicht allein fehlende Kompetenzen. Es geht vielmehr um die Philosophie im Umgang mit Jungen und die soziale Bewertung der beiden Geschlechter. Wenn wir an diesen Wurzeln nichts ändern, werden wir mit Maßnahmen zur Verbesserung der Lesekompetenz bei Jungen – die ihnen nachweislich fehlt – auch nicht sehr viel weiter kommen.

Was muss sich dann ändern?

Wir wissen aus der Forschung, dass bereits Kinder im vorschulischen Alter ein klares Bild über ihr Geschlecht vermittelt bekommen haben und beginnen, diesem gerecht zu werden. So etablieren sich von Anfang an zwei unterschiedliche Sozialisationsmodelle. Die Jungen spielen vorwiegend mit Jungen, die Mädchen spielen mit Mädchen. Beide Modelle sind vollkommen unterschiedlich. Mädchen verbalisieren sehr viel, sie äußern Emotionen und nehmen Emotionen anderer Mädchen wahr. Auf diese Weise erwerben sie meta-emotionale Kompetenz – jene Kompetenz, die uns erlaubt, die emotionale Situation eines anderen Menschen zutreffend wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren. Diese ist die Grundkompetenz zur Regulierung sozialer Beziehungen im Beruf oder in der Partnerschaft. Die Jungen dagegen initiieren Machtspiele, verbalisieren zu wenig und äußern wenig Emotionen.

Was folgt daraus?

Daraus resultiert ein doppeltes gesellschaftliches Problem. Dadurch, dass Jungen nicht viel verbalisieren, entwickeln sie ihre Sprachkompetenz nicht angemessen. Genauso entwickeln sie ihre emotionale Kompetenz nicht in dem Ausmaß wie die Mädchen – sie sind also auf die Anforderungen der postmodernen Gesellschaft nicht genügend vorbereitet. Die emotionale Kompetenz fehlt ihnen dann auch in der Partnerschaft und im beruflichen Bereich. Das Hauptproblem ist also, dass wir infolge dieser starken sozialen Konstruktion die Geschlechter zu sehr polarisieren und damit Kindern die Möglichkeit nehmen, ihre individuellen Stärken zu entwickeln.

Kulturwissenschaftler betonen, dass die Geschlechterunterschiede vor allem soziale Konstrukte sind. Mann und Frau sind Rollen, die man lernt, und die dem historischen Wandel unterliegen. Viele Biologen und Hirnforscher sagen aber, das meiste sei von der Biologie vorherbestimmt.

Beide Positionen sind in ihrer extremen Auslegung nicht zu halten. Selbstverständlich bestimmt auch die Biologie das Verhalten des Menschen. Biologistische Ansätze erklären aber nicht, warum in manchen Naturvölkern nicht die Mutter, sondern der Vater die Verantwortung für die Kinder übernimmt. Ich bin Anhänger der Auffassung, dass die kindliche Entwicklung das Produkt von Interaktionsprozessen ist. Die genetischen Informationen des Kindes spielen in diesem Diskussionsprozess genauso eine Rolle wie die Umwelt, die Kultur und die Erwachsenen, die diesen Prozess mitkonstruieren.

Eltern sagen oft, dass sie ihre Kinder nicht geschlechtsspezifisch erziehen. Gleichwohl griffen die Töchter lieber zu Puppen, die Söhne zum Bagger – ganz so, als bräche sich die Natur Bahn gegen die besten Erziehungsabsichten. Geht die biologische Bestimmung so weit?

Nein, das ist keine biologische Bestimmung. Ich sagte bereits, dass Eltern bei der Erziehung Konzepte übernehmen, die von der Gesellschaft geformt wurden. Die Eltern haben ein „hidden curriculum“, einen versteckten Lehrplan, den sie befolgen. In der Regel handeln sie spontan und unreflektiert, und sie handeln geschlechtsstereotypisch. Sie merken das selbst nicht.

Was steht im „hidden curriculum“?

Darin enthalten sind alle Normen, Werte und sozialen Erwartungen, die mit den beiden Geschlechtern in einer bestimmten Zeit und Kultur verbunden sind. Wenn ich in einem Teil Europas aufwachse, wo traditionelle Vorstellungen über Männer und Frauen vorherrschen, ist klar, dass Mütter und Väter diese übernehmen.

Wie werden Säuglinge und kleine Kinder zu Jungen oder Mädchen geformt?

Die Eltern beginnen damit schon in der pränatalen Phase. Sie erfahren das Geschlecht des Kindes und beginnen, die Bewegungen des Fötus geschlechtsangemessen zu interpretieren. Sie sagen etwa: „Das ist aber ein lebendiger Junge“, wenn der Fötus viel strampelt. Oder: „Das ist ein braves Mädchen“, wenn der Fötus ruhig ist. Sie entwerfen bereits ein sozial verankertes, geschlechtsstereotypes Modell. Wenn das Kind zur Welt kommt, setzt sich das auf der Handlungsebene fort.

Sind sich Eltern tatsächlich noch so wenig über Geschlechtsstereotype bewusst?

Wir sind an einem Punkt angelangt, wo die Eltern beginnen, diese Stereotype zu hinterfragen. Man sollte Eltern nicht als Naive hinstellen, die gutgläubig diese soziale Konstruktion übernehmen und aus Bequemlichkeit weitergeben. Wir sind mitten in einem Diskurs, der vieles hinterfragt, was bis jetzt unhinterfragt geblieben ist. Wir sind auch gut beraten, das zu tun. Ich kenne nichts, was die Kreativität der Menschen so sehr hemmt wie die Konstruktion der beiden Geschlechter.

Wie kann man Erzieher und Eltern sensibilisieren, Kinder nicht in Geschlechterrollen zu drängen?

Wir erarbeiten gerade für die Südtiroler Regierung ein Programm, wie man von Anfang an Bildungsprozesse bei Kindern in der Familie stärken kann. Anstatt von außen das Individuum zu steuern und es dabei massiv einzuschränken, sollten wir dem Kind altersangemessen die Verantwortung übergeben, seine Entwicklung mithilfe der Eltern und anderer Erwachsener selber voranzubringen.

Wie soll das klappen – wie kann ein Baby seine Entwicklung selber voranbringen?

Sehen Sie, wenn Sie mit diesem Baby in Interaktion treten, teilen Sie ihm Ihre Vorstellungen, Ihre Erwartungen und Ihre Anforderungen an ein Kind mit. Wenn Sie meinen, dass ein Mädchen auch ein rosa Kleid anziehen soll, sind Sie auf dem besten Weg in die soziale Konstruktion. Wenn Sie dieses Baby dagegen ermuntern, auch andere Aktivitäten wahrzunehmen, aktiv die Umwelt zu erkunden, dann handeln Sie in meinem Sinne. Wir müssen den Kindern, Jungen wie Mädchen, bewusst werden lassen, dass die Optionen, das eigene Geschlecht zu konstruieren, alles umfassen, was für Jungen wie für Mädchen verfügbar ist.

Offenbar haben die meisten Menschen aber Angst vor dem Verwischen der Geschlechterunterschiede. Wie auch immer sich die Rollen von Mann und Frau verändert haben, man hält fest an einem Kern des „ewig Weiblichen“ und des „ewig Männlichen“.

Die Angst ist kulturell genährt und verankert. Unser Mut, sich dagegen aufzulehnen, ist noch nicht genügend ausgeprägt.

Erschwert das, die Probleme der Jungen zu lösen?

Natürlich. Wer kann sich schon allein gegen das System auflehnen? Ich glaube aber, dass die Ideologien, die lange die Familienpolitik in der Bundesrepublik behindert haben, zurückgehen. Viele Menschen sind immer weniger bereit, einem politischen Ansatz zu folgen, der von ihnen Erwartungen abverlangt, die sie nicht zu erfüllen bereit sind. Die steigende Zahl der Kinderlosen ist ein markantes Beispiel dafür.

Das Gespräch führten Anja Kühne und Tilmann Warnecke.

Zur Startseite