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Das neue Leitbild türkischer Bildungspolitik? Mehmet II., osmanischer Sultan, eroberte 1453 Konstantinopel (Istanbul). Die Stadt feiert das seit 2009 mit einem monumentalen Panorama-Museum.

© picture-alliance / /HIP

Islamisierung des türkischen Bildungssystems: Osmanisch für alle

Der türkische Präsident Erdogan will die Rückbesinnung auf die islamischen Wurzeln forcieren – mit Osmanisch als neuem Schulfach. Zuerst soll es an religiösen Gymnasien eingeführt werden, in Zukunft möglichst an allen Oberschulen.

In aller Welt bemühen sich Bildungsbehörden, den Kindern ihrer Länder so gut wie möglich Englisch oder andere moderne Weltsprachen beizubringen. Doch in der Türkei dringt die Regierung darauf, die junge Generation eine vor 100 Jahren abgeschaffte Hofsprache lernen zu lassen, die im 21. Jahrhundert weder große Erkenntnisgewinne noch eine besonders gute Vorbereitung auf die Herausforderungen der neuen Zeit verspricht.

„Ob sie wollen oder nicht, sie werden Osmanisch lernen“, sagt Präsident Recep Tayyip Erdogan über die rund 17,5 Millionen Schüler in seinem Land. Erdogan, der keine einzige Fremdsprache spricht, hat die Sprache des 1918 untergegangenen Osmanischen Reiches zu einer Priorität der Bildungspolitik erklärt.

Die türkische Bildungskonferenz, ein von Regierungsanhängern dominiertes Treffen von Politikern, Lehrern und Experten, beschloss kürzlich, das Osmanische auf die Lehrpläne der religiösen Imam-Hatip-Gymnasien zu setzen. Die Imam-Hatip-Schüler machen weniger als zehn Prozent aller türkischer Gymnasiasten aus. Doch wenn es nach Erdogan geht, sollen in Zukunft alle Oberschüler Osmanisch lernen. Allein durchsetzen kann Erdogan die Reform nicht, doch die Bildungskonferenz ist mehrheitlich mit Regierungsanhängern besetzt.

In den 20er Jahren wurde Osmanisch durch das moderne Türkisch ersetzt

Dabei geht es dem Präsidenten nicht so sehr um das linguistische Erbe seines Landes. Die Osmanisch-Initiative ist Teil eines politischen Programms, mit dem Erdogan eine Rückbesinnung der Türkei auf ihre islamischen Wurzeln fördern will. Das Osmanische, eine Form des Türkischen mit vielen arabischen und persischen Lehnwörtern und mit arabischer Schrift, war in den 1920er Jahren von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk durch das moderne, mit lateinischen Buchstaben geschriebene Türkisch ersetzt worden.

Pflichtfach "Religion und Ethik" ab der ersten Klasse

Auch andere Beschlüsse der Bildungskonferenz entsprachen den Vorgaben Erdogans. So wurde entschieden, die Zubereitung von Cocktails aus den Lehrplänen der Hotelfachschulen zu streichen. Auch entschieden die Bildungspolitiker, das Pflichtfach „Religion und Ethik“ künftig schon ab der ersten Klasse der Grundschule beginnen zu lassen; bisher startete der Religionsunterricht erst in der vierten Klasse. Gegnern dieser Reform wurde laut Presseberichten bei der Sitzung vorgeworfen, sie seien wohl gegen Allah.

Neben weltanschaulichen Motiven spielen auch praktisch-politische Beweggründe eine Rolle. Erdogan sendet klare Botschaften an die Basis seiner Regierungspartei AKP, die bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr mehr als 50 Prozent der Stimmen gewinnen will. Der Präsident fordert die Ausbildung einer „frommen Jugend“, er will ein Land, das stolz ist auf den Islam und auf die islamische Kultur und in dem Säkularisten und andere Skeptiker keine Rolle mehr spielen. Seine umstrittenen Äußerungen über die Entdeckung Amerikas durch Muslime, seine Unterstützung für die religiösen Imam-Hatip-Schulen und seine scharfe Kritik an der angeblich nur an Öl und Gas interessierten Nahost-Politik des Westens sind Ausdruck dieses Weltbildes.

Die Zeit des Osmanen-Reiches als angeblicher Ära von Frieden und Harmonie spielt bei den Bemühungen der islamisch-konservativen Regierung um eine Festigung einer muslimisch geprägten Identität der Türken schon seit längerem eine große Rolle. In Istanbul ließ die AKP-Stadtverwaltung 2009 ein Panorama-Museum zum Thema der Eroberung der Stadt durch Osmanen-Sultan Mehmet II. im Jahr 1453 bauen.

Wie in guten alten, osmanischen Zeiten

Erdogan und sein Ministerpräsident Ahmet Davutoglu verweisen häufig auf die Osmanenherrschaft im Nahen Osten als Beispiel für ein vorbildhaftes Zusammenleben der Angehörigen verschiedener Religionen. Nicht nur türkische Politiker sind fasziniert von der guten alten Zeit. Im türkischen Fernsehen locken Serien über das Leben am osmanischen Hof Millionen von Zuschauern vor die Bildschirme.

Erdogans Forderung nach Osmanisch-Unterricht bildet eine neue Stufe der Osmanen-Verherrlichung. Die Websites regierungsnaher Zeitungen bieten ihren Lesern bereits die Übersetzung ihrer Namen ins Osmanische an. Die Opposition argwöhnt unterdessen, dass Erdogan die vor 90 Jahren abgeschaffte arabische Schrift wieder einführen und damit die Reformen Atatürks zum Teil wieder aufheben will.

Allerdings haben weder Erdogan noch die regierungstreuen Bildungspolitiker bisher erklären können, welcher Stoff im Fach „Osmanisch“ überhaupt gelehrt werden soll. Die osmanische Hofsprache ist ein hochkompliziertes Gebilde, das nur von wenigen Experten beherrscht wird.

Schlechteste Englischkenntnisse Europas

Einige Beobachter plädieren dafür, die osmanische Sprache zum Wahlfach zu machen, um die Erforschung osmanischer Dokumente zu erleichtern, die bisher ungelesen in den Archiven lagern. Doch ein Pflichtfach zu etablieren, sei angesichts der Bedürfnisse der modernen Türkei und ihrer Wirtschaft kontraproduktiv, schrieb der Wirtschaftskolumnist Emre Deliveli in der „Hürriyet Daily News“. Wenn Erdogan wirklich wolle, dass türkische Schüler eine Fremdsprache lernen, dann solle er es einmal mit Englisch versuchen.

Derzeit bildet die Türkei in Sachen Englischkenntnisse das Schlusslicht in Europa. Die Osmanisch-Debatte droht die dringend notwendige Diskussion über die wirklichen Probleme im türkischen Bildungssystem zu verdrängen.

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