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Foto: promo/Vivantes

© picture alliance / landov

Jugendpsychiater Oliver Bilke: "Aus einem Elfjährigen kann alles werden"

Der Jugendpsychiater Oliver Bilke spricht mit dem Tagesspiegel über Gene, Gewalt und Therapien für kriminelle Kinder.

Auch ein elfjähriger Drogendealer ist ein Kind, das noch einen langen Lebensweg vor sich hat. Ist der schon vorgezeichnet? Oder ist dem Heranwachsenden und der Gesellschaft noch zu helfen?

Das ist sogar ein sehr günstiges Alter zum Eingreifen, bevor dann die Pubertät mit ihren eigenen Regeln kommt. Aus einem Elfjährigen kann noch alles werden. Man muss aber wissen, dass es ein besonderes Alter ist: Die Umgebung aus Erwachsenen und Geschwistern, in der das Kind sich befindet, ist in diesem Alter noch sehr wichtig. 10-bis-12-Jährige sind oft leistungsorientiert und ausgesprochen fleißig. Sie können unter Druck oder mit Aussicht auf Belohnung viele Aufgaben bestens erledigen: Sie helfen im Haushalt, aber sie können auch Kindersoldaten oder Drogendealer werden. In der Literatur gibt es nicht umsonst das Motiv der hilfreichen, aber auch der gefährlichen Kinderbande.

Sie sind kleine Erwachsene?

Nein. Weil Kinder in diesem Alter in vielem schon sehr selbstständig sind und auch körperlich meist sehr geschickt, schnell und fit sind, setzen Erwachsene meist auch viel bei ihnen voraus. Zu Unrecht: Sie können noch nicht abstrakt denken, eine intellektuelle Auseinandersetzung kann man mit ihnen noch nicht führen. Sie sind eine merkwürdige Altersgruppe, keine kleinen Kinder mehr, aber auch längst noch nicht erwachsen. Fragil, gefährdet und zugleich irritierend. Elfjährige leben ausgesprochen stark im Hier und Jetzt. Wenn man bei einem kriminellen Kind nicht an dieser Stelle eingreift und Beziehungen verändert, wird man nichts erreichen.

Also muss man Kinder, die mit Drogen dealen, aus den Familien herausnehmen?

Manchmal führt kein Weg daran vorbei, wenn man die Gesellschaft vor dem Kind und das Kind vor schlechter Gesellschaft schützen will. Das führt aber meist dazu, dass die Beziehungen zu den Eltern, auch wenn sie aggressiv sind, ein Stück weit idealisiert werden. Man erinnert sich nur an die guten Dinge. Auch hartgesottene Delinquenten bekommen dann Heimweh, weil ihnen das Gefühl der Sicherheit und Bekanntheit fehlt. Selbst wenn die Rahmenbedingungen zu Hause schrecklich sind, sind sie vertraut.

Gibt es einen Ausweg?

Ja, er ist aber auch teuer: Er besteht darin, dass Therapeutenteams in die Familie kommen und vor Ort konsequent mit Eltern und Kindern arbeiten, um die Dinge zu verändern. Diese Teams werden den Eltern zwangsweise an die Seite gestellt, sie besprechen mit ihnen schwierige Situationen, greifen ein, sorgen etwa dafür, dass das Kind zur Schule geht. Und sie stehen auch nachts und am Wochenende zur Verfügung. Im besten Fall kann man mit solchen verordneten massiven Eingriffen in das Familienleben die Vorteile der Institution mit der des Ambulanten verbinden – und das Ganze jenseits des Streits um geschlossene und offene Heime. Leider ist das noch viel zu wenig verbreitet. Es braucht dafür klare politische und juristische Rahmenbedingungen.

In den Praxen der Kinder- und Jugendpsychiater und bei Ihnen in der Klinik landen aber auch Kinder, die kriminelle Handlungen begangen haben, ohne in einem einschlägigen Milieu aufgewachsen zu sein. Wie kann das passieren?

Wie üblich spielen mehrere Einflussfaktoren mit: Zunächst einmal genetische Besonderheiten, schlechte Startchancen durch Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft oder Verletzungen während der Geburt. Wer später eine Störung des Sozialverhaltens entwickelt, kann sich typischerweise sehr schlecht mit den eigenen Gefühlen auseinandersetzen und hat große Schwierigkeiten, sich in andere hineinzuversetzen.

Was hat das dann für Folgen?

Solche Kinder können Gefühle wie Furcht und Abwehr bei anderen nicht erkennen. Umgekehrt neigen sie dazu, die Welt als feindselig und bedrohlich zu erleben, gerade weil sie sich nur schlecht in andere hineinversetzen können. Wenn ein solches schwieriges Naturell mit frühkindlicher Vernachlässigung und Gewalt zusammenkommt, wenn in der Familie wenig gesprochen und schnell zugeschlagen wird, dann lernt das Kind schon mit zwei, drei Jahren, dass es klüger ist, sich auf eine Gefahrensituation einzustellen als zu hoffen, dass sich alles im Guten klären lässt. Durch Medieneinflüsse und eine gewalttätige Atmosphäre auf dem Schulhof wird ein Kind in seiner Ansicht noch bestärkt, dass Gewalt das einzige Mittel ist, zu seinem Recht zu kommen.

Dann ist also eigentlich ganz früh alles schon gelaufen?

Durchaus nicht. Gerade ist eine Untersuchung erschienen, für die das Schicksal delinquenter Kinder 20 Jahre lang nachverfolgt wurde. Es hat sich gezeigt, dass sie nicht unbedingt zu straffälligen Jugendlichen und Erwachsenen wurden. Das ist also kein automatischer Weg. Frühe Kindheit, späte Kindheit und Jugendalter, das sind drei Phasen, die ganz unterschiedlich betrachtet werden müssen. Allerdings trifft das Strafrecht in Deutschland durch die Altersgrenze 14 eine aus entwicklungspsychologischer Sicht etwas unglückliche Festlegung. Im Grunde müsste man die Altersgruppe der Zehn- bis 14-Jährigen extra betrachten.

Und auch anders behandeln, wenn sie Verhaltensauffälligkeiten zeigen?

Ja. Einen Jugendlichen muss ich auf seine eigenen Zukunftsziele hin orientieren, ein älteres Kind muss lernen, sich im Kontakt mit anderen zu regulieren, bei einem Kleinkind muss ich unbedingt auf die Familie einwirken.

Und das hat Erfolg?

In den letzten Monaten sind mehrere Studien erschienen, die zeigen, dass sich das lohnt. Dafür wurden Kinder mit einem Defekt im Transportergen für den stimmungsausgleichenden Botenstoff Serotonin in zwei Gruppen geteilt. Diese Kinder haben Schwierigkeiten mit der Impulssteuerung, und das ist bekanntermaßen verbunden mit einem höheren Risiko für späteren Drogenkonsum, Aufmerksamkeitsstörungen oder auch Delinquenz. Die einen wuchsen ohne ein besonderes Programm auf, in der anderen Gruppe wurden die Eltern darin geschult, von klein auf die Emotionsregulation ihrer Kinder zu unterstützen. Es zeigte sich, dass diese Kinder später, im Alter von zehn bis elf Jahren, nicht häufiger eine Störung des Sozialverhaltens entwickelten als genetisch unauffällige Kinder. Die genetischen Risiken wirken sich also nur aus, wenn die Unterstützung in der frühen Kindheit nicht optimal ist. Diese Art der Vorbeugung müsste die Gesellschaft verbindlich vorsehen. Hilfe heißt dabei nicht automatisch: Heim.

Die Fragen stellte Adelheid Müller-Lissner.

Oliver Bilke (44) ist Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den Vivantes-Kliniken Friedrichshain und Neukölln. Dort behandelt er unter anderem jugendliche Delinquenten.

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