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Schichten freilegen. Studierenden in Frankfurt (Oder) empfiehlt Schlögel, Hörsäle und Bibliotheken zu verlassen und die Geschichte an den Orten zu suchen.

© Viadrina/Heide Fest

Karl Schlögel: Kult-Autor unter Historikern

Der Historiker Karl Schlögel hat die Stadtgeschichte vor allem für Osteuropa neu erfunden. Die Neuausgabe seines Buches „Moskau lesen“ führt jetzt auch in die Viertel der Neureichen der russischen Hauptstadt..

Wenn er aus Moskau zurückkommt, so wie heute früh, fühlt sich Karl Schlögel wie gerädert. „Nachts rasen die Leute dort mit 150 Stundenkilometern über den City-Ring“, sagt er und verdreht die Augen. „Berlin ist dagegen ein Kurort.“ Es ist eine Hassliebe, die ihn mit der russischen Metropole, dem „Moloch Moskau“, verbindet. Einer Stadt, die ihn seit mehr als einem Vierteljahrhundert fesselt.

Schlögel, 63, lebt im ruhigen, gutbürgerlichen Berliner Stadtteil Wilmersdorf. Auf dem Esstisch liegt ein 500-Seiten-Wälzer: die aktualisierte Ausgabe seines Frühwerks „Moskau lesen“, die unlängst neu erschienen ist (Hanser Verlag, München 2011). Bei der Arbeit daran hat Schlögel Mitte der 1980er Jahre seine eigenwillige Forschungsmethode entwickelt, die ihn zu einem Kult-Autor unter den Historikern machen sollte. Während sich die meisten Geschichtswissenschaftler ausschließlich auf Quellentexte und Sekundärliteratur stützen, erkundete er die Hauptstadt der Sowjetunion wie ein neugierigerer Flaneur und brachte seine Eindrücke und Reflexionen mit feuilletonistischer Leichtigkeit zu Papier. Seine ungewöhnliche Stadt-Geschichte Moskaus entfacht einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

Doch wie geht das überhaupt, eine Stadt lesen? „Ganz einfach“, sagt Schlögel. „Ich beginne mit den Fassaden, den Straßenzügen und den Parks – für mich ist das alles Text.“ Anschließend arbeite er sich Schritt für Schritt in tiefere Schichten vor und beginne, „den Text zu dechiffrieren“. Schlögels Augen leuchten, die Erschöpfung von der Moskau-Reise scheint verflogen. Eine „gut sortierte Bibliothek im Kopf“ sei bei dieser Arbeit hilfreich, erklärt er: alte Stadtpläne etwa, historische Biografien, Statistiken, Entwürfe nicht umgesetzter Bauprojekte.

Schlögel zählt zu den wichtigsten Vertretern des sogenannten spatial turns, der „raumkritischen Wende“, die seit den frühen 1990er Jahren von manchen Historikern propagiert wird. „Geschichte spielt sich an konkreten Orten ab“, betont er. „History takes place.“ Zur Zeit der Antike sei das für Gelehrte noch selbstverständlich gewesen. Und Immanuel Kant definierte die Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert noch als die „Disziplin des Nacheinander“ und die Geografie als die „Geschichte des Nebeneinander“. Doch bereits zu Kants Zeiten drifteten die beiden Wissenschaftsgebiete immer stärker auseinander, und geografische Fragestellungen verschwanden weitgehend aus dem Bewusstsein vieler Historiker.

Schlögel plädiert für die erneute Annäherung der beiden Fachgebiete und will darüber hinaus Architektur und Städtebau mit einbinden. Denn auch die Beschäftigung mit Bauwerken und Konstruktionsplänen könne ein Schlüssel sein, um ganze Epochen besser verstehen zu lernen. Am Beispiel der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau etwa, dem zentralen Gotteshaus der Russisch-Orthodoxen Kirche, lasse sich die ganze Geschichte des modernen Russlands erzählen: Josef Stalin ließ das Gotteshaus 1931 sprengen, um an seiner Stelle den „Palast der Sowjets“ zu errichten, das mit 415 Metern höchste Gebäude der Welt – als Symbol der grenzenlosen Macht der Sowjetunion. Doch der Palast blieb ein Luftschloss, und im Jahr 1960 wurde in den Fundamenten der Kirche stattdessen ein Schwimmbad eingerichtet. Knapp 40 Jahre später bauten die Moskauer die Christ-Erlöser-Kathedrale schließlich für rund 170 Millionen US-Dollar originalgetreu wieder auf.

Im Anhang zu „Moskau lesen“ findet sich ein Verzeichnis zahlreicher weiterer Bauwerke und Schauplätze, die zum Erforschen historischer Spuren einladen. „Ich freue mich immer, wenn Leser dieses Buch auch als Reiseführer nutzen.“

Im deutschen Sprachraum gilt jeder Geistes- oder Sozialwissenschaftler, der seine Texte nicht umständlich und dröge formuliert, schnell als verdächtig, unseriös zu arbeiten. Vielleicht war es für Schlögel als Quereinsteiger leichter, sich über manche Konvention hinwegzusetzen. Er stammt aus keiner Akademikerfamilie, wuchs auf einem Bauernhof auf. Auch seine wissenschaftliche Laufbahn verlief nicht klassisch: Nach der Doktorarbeit über sowjetische Dissidenten zur Stalinzeit blieb er nicht an der Universität, sondern schlug sich als freier Schriftsteller und Publizist durch. Dennoch erhielt er 1990 unvermittelt das Angebot, in Konstanz Professor für Osteuropäische Geschichte zu werden. Vier Jahre darauf folgte er dem Ruf an die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

Die Schwerpunkte seiner Forschungsarbeit – Osteuropa, Großstädte, Migration – haben sich aus seiner Biografie ergeben: Auf dem Hof seiner Eltern lebten Mitte der 50er Jahre, als er ein Schuljunge war, Flüchtlinge aus Schlesien. „Sie waren arm, aber sehr interessant“, erinnert sich Schlögel. Während des Studiums in Westberlin, in den frühen 1970er Jahren, engagierte Schlögel sich in kommunistischen Zirkeln. Er träumte von einer gerechteren Welt ohne Ausbeutung. „Ich war damals besonders von Mao Zedongs Kulturrevolution fasziniert“, erzählt er. „Und mein Vater fürchtete, ich würde ihn eines Tages enteignen lassen.“ Erst um das Jahr 1980 kehrte Karl Schlögel der kommunistischen Ideologie ernüchtert den Rücken. Ein schmerzhafter Prozess. „Aber plötzlich gab es offenes Gelände zwischen den ideologischen Fronten: Es hatte auch etwas Befreiendes.“ Mit einem Stipendium ging er nach Russland, und begann mit der „Lektüre von Städten“.

„In Moskau stand damals die Zeit still“, sagt Schlögel. Wollte man etwa ein Telefongespräch führen, musste man vier Stunden einplanen. Erst hieß es zwei Stunden warten beim Telegrafenamt. Dann jede Menge Formulare ausfüllen, dann sich an der Kasse anstellen, und anschließend wieder in einer anderen Schlange, bei den Telefonapparaten. „Man hatte viel Muße, um alles zu beobachten.“ Das moderne Moskau sei „ein völlig anderes Buch“: Das schnelle Geld, die Gated Communities, die Neureichen in ihren protzigen Geländewagen, das organisierte Verbrechen, das exzessive Nachtleben, die gigantischen Shopping Malls, die nachts erleuchteten Fassaden der Wolkenkratzer – darüber hat Schlögel für die Neuauflage von „Moskau lesen“ zusätzliche Kapitel verfasst. Auch „Tatorte“ werden beleuchtet: Die regierungskritische Journalistin Anna Politkowskaja etwa wurde am 7. Oktober 2006 beim Belorussischen Bahnhof ermordet, in der Näher der Endstation des Airport-Shuttles, mit dem die Touristen vom Flughafen in die Stadt gebracht werden.

Schlögel ist ein Vielschreiber: Auch „Die Mitte liegt ostwärts“ (1986), die Petersburg-Studie „Das Laboratorium der Moderne“ (1988) sowie der lange Essay „Planet der Nomaden“ (2000), in dem er die Migranten als wahre Helden unserer Zeit würdigt, machten Furore. Momentan arbeitet er an einem Buch über die Wolga, den mit mehr als 3500 Kilometern längsten Fluss Europas.

Seinen Studierenden und Kollegen empfiehlt Karl Schlögel, möglichst oft die Hörsäle und Bibliotheken zu verlassen und ihre Wahrnehmung zu schulen. „Es gibt keine geschichtslosen Orte“, sagt er. „Überall auf der Welt kann man tausende Schichten freilegen.“ Sei es nun auf dem Roten Platz in Moskau oder irgendwo in Frankfurt an der Oder, in Berlin-Hellersdorf oder in Oberursel im Taunus. Leider nur sei die menschliche Lebenszeit begrenzt. „Manchmal muss ich mich zwingen, an der Oberfläche zu bleiben.“

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