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Katastrophe in Japan: Eine Formel für ihr Leben

Sie wählten ein Studium, das Zukunft versprach: Atomtechnik und Reaktorsicherheit. Misstrauen und Ablehnung sind sie gewohnt. Doch dann kam Fukushima und verrückte alle Maßstäbe.

Was hier steht, ist von gestern. Es geht um ein paar junge Männer, die im Gegensatz zu 50 ihrer japanischen Kollegen gerade weder ihr Leben aufs Spiel setzen noch ihre Gesundheit verlieren, sondern bloß ihre Sprache. Um nichts weiter geht es, als eine manchem Anschein nach berufliche Fehlentscheidung, vor Jahren getroffen, um ein nach bisher geltenden Maßstäben durchaus existenzielles Opfer, das heute jedoch vergleichsweise gering erscheint. Diese jungen Männer lassen sich in Aachen gerade zu Atomtechnikern, zu Kernkraftsicherheitsingenieuren ausbilden.

Aber braucht man sie noch? Wird in drei Monaten, nach dem Ende der Bedenkzeit über die deutschen Atomkraftwerke, Klarheit herrschen? Oder schon vorher, weil das Moratorium rechtlich schwer begründbar zu sein scheint und abgebrochen wird, oder später, weil sich die Sache deshalb in die Länge zieht? Und welche Klarheit? Und wo fängt man an?

Vielleicht an einem Tag im Juni 1986, als in Nürnberg ein Junge auf die Welt kam. Es war die Zeit nach Tschernobyl, zwei Monate zuvor war dort ein Atomkraftwerk explodiert. Es hieß damals, dass im Süden der Bundesrepublik mehr von der sowjetischen Radioaktivität ankommen würde als im Norden, also ging die Mutter mit dem Säugling ins Hannoversche, zu den Großeltern, für ein halbes Jahr.

Der Junge gedieh, ging zur Schule, die Familie war inzwischen nach Korschenbroich bei Düsseldorf umgezogen, und einmal, mit zehn Jahren, er war wieder zu Besuch bei seinen Großeltern, da nahm ihn der Großvater bei der Hand. In der Zeitung hatte gestanden, dass im Kernkraftwerk Stade Tag der offenen Tür sei. Der Junge sah dort eine riesige Turbine, 3000 Umdrehungen in der Minute, schwingungsdämpfend gelagert, und trotzdem vibrierte alles. Er war beeindruckt.

Kurz vor dem Schulabschluss ging er mit seiner Klasse ins Berufsbildungszentrum, setzte sich dort vor einen Computer und beantwortete die Fragen, die ihm die Maschine stellte. „Finden Sie Autos gut?“, zum Beispiel, und am Ende empfahl ihm der Computer, Elektrotechnik zu studieren.

Er erzählte dies alles an einem Abend vor ein paar Wochen, als der Winter noch kalt war und seine Welt noch übersichtlich, an einem Kneipentisch in Aachen, Alexander Hundhausen, nun 24 Jahre alt. Er sagte: „Meine Freunde wollten das auch alle machen, das färbte ab.“ 2006 ging er an die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen. Ein paar Semester später hörte er von seiner Mutter den Satz „Du bist enterbt.“

Sie sagte ihn im Spaß, aber nicht grundlos. Denn ihr Sohn hatte sich mittlerweile für eine Spezialisierungsrichtung entschieden. Er studierte jetzt am Lehrstuhl für Reaktorsicherheit und -technik.

Als er dies alles erzählte an jenem Aachener Kneipentisch, saß er in einer Runde von Kommilitonen, alle studieren mit ihm beim gleichen Professor, sind wissenschaftliche Mitarbeiter oder Doktoranden. Sie sprachen darüber, was den Ausschlag gab für ihre Fachrichtung, und wie das so ist, sich für etwas ausbilden zu lassen, das von einem großen Teil der Öffentlichkeit abgelehnt wird. Der Laufzeitverlängerungsbeschluss der Regierungsparteien war noch nicht allzu lange her, der Ärger darüber groß, der jährliche Gorleben–Protest so gut besucht wie lange nicht.

Einer sagte: „Ich muss sagen, dass Reaktortechnik mich von der Technik her nicht mehr begeistert hatte als andere Technik. Aber der Lehrstuhl hier ist gut, kleine Studentenzahlen, viel Betreuung.“

Ein anderer sagte: „Ja, es wird in Deutschland wohl kein Werk mehr neu gebaut, aber die Firmen sind hier, die machen internationale Projekte.“

„Jeder von uns ist ständig versucht zu beschreiben, warum Kerntechnik sinnvoll ist.“

„Wenn man glaubwürdig argumentieren will, dann muss man einen anderthalbstündigen Monolog halten. Man braucht einen wohlmeinenden Zuhörer.“

„Beim Erklären kommt man schnell in technische Dinge hinein, und dann steigen die Leute aus.“

„Man merkt, dass viele wenig Ahnung haben. Dann kommt man mit Argumenten, und dann kommt die Entgegnung mit der Endlagerung.“

„Man kommt eben auch oft an den Punkt: Ihr wisst es einfach nicht besser als ich.“

Es war viel von Faszination die Rede, davon, wie großartig es ist, mit einer physikalischen Formel so etwas Gigantisches wie ein Kraftwerk beschreiben zu können, vom Wunsch nach mehr gesellschaftlicher Billigung für die gefährliche, aber eben auch vergleichsweise opferarme Atomtechnik – wer hat jemals alle in Kohlegruben und Tagebauen verunglückten Bergarbeiter gezählt? Es ging um ihr Lebenswerk, schließlich hätten sie jetzt schon alle eigene Forschungsprojekte zur Erhöhung der Sicherheit.

Es ist eine Runde ernsthafter junger Männer gewesen, nicht immer formulierten sie ihre Sätze geschliffen, aber immer ohne Zögern. Sie hatten intensiv und oft über das alles nachgedacht. Über jenen großen Teil ihrer Landsleute, die in Umfragen Atomkraftgegner zu sein vorgaben. Und der nicht in Deckung gebracht werden kann mit jenen vergleichsweise wenigen Privathaushalten, die Öko- Stromverträge haben. Über die unterschiedliche Wahrnehmung vieler Menschen, was Risiken und Wahrscheinlichkeiten angeht, und dass sie das zwar begreifen würden, sie seien ja nicht bescheuert, aber niemals als ihren eigenen Maßstab akzeptieren. Es war eine Runde, bei der ganz im Gegensatz zu vielen ihrer Kritiker Sagen und Handeln, Wort und Tat im Einklang standen. Es war die vollkommene Abwesenheit von Heuchelei. Desperados saßen dort, Ausgeschlossene, Vorverurteilte, die sich aber ganz und gar nicht so fühlten, bis dann einer doch den Satz sagte: „Wir sind schon ein besonderer Menschenschlag.“

Seit mindestens einem Jahrzehnt hat die Atomkraftbranche extreme Nachwuchssorgen. Kurz vor der Katastrophe von Tschernobyl studierten in der Bundesrepublik noch ungefähr 300 Menschen Kerntechnik im Hauptfach, im Jahr 2004 waren es etwas mehr als 20, im Jahr 2007 weniger. Ungefähr die Hälfte davon kam aus dem Ausland. Gebraucht würden auf dem Akw-Arbeitsmarkt pro Jahr aber 150 Absolventen. Das Personalproblem reicht bis nach ganz oben in die Führungsebene.

Ende 2010 trat eine Bewerberin um den Chefposten im Kernkraftwerk Krümmel zu ihrer praktischen Abschlussprüfung an. Es ging darum, den Reaktor rasch und sicher herunterzufahren. Die schleswig-holsteinische Atomaufsichtsbehörde ließ sie durchfallen.

Heute besuchen allein am Aachener Reaktorsicherheitsinstitut wieder 50 Studenten die Seminare und Vorlesungen. Es hatte sich herumgesprochen, dass die Berufsaussichten bei ausreichender Qualifikation blendend sind. Und dass man diese Qualifikation hier offenbar bekommt.

Seit 2008 hat Professor Hans-Josef Allelein den Lehrstuhl inne. Er hat Kooperationen mit anderen Forschungseinrichtungen initiiert, auch welche mit seinem einstigen Arbeitgeber, der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, einer Sachverständigenorganisation. Er ist ein Mann des Austauschs, mit anderen Bereichen der Wissenschaft und mit der Welt, die jenseits davon liegt. Er sagt von sich, er möchte, „dass die Studierenden hier über den Tellerrand hinausgucken, dass sie wissen, was sie tun. Und sie müssen aushalten, dass sie vielleicht samstags auf der Party was zu hören bekommen.“

Es ist so leicht, ihnen moralische Inkompetenz vorzuwerfen. Tschernobyl, die Zustände in den Uranbergwerken in Afrika. Genauso leicht, wie sich danach in ein Auto zu setzen, dessen Treibstoff vielleicht aus Saudi-Arabien oder Libyen stammt, aus Staaten, die sich mit den Einnahmen daraus Waffen kaufen, mit denen sie Bengasi zusammenschießen oder in Bahrain einmarschieren.

Über den Tellerrändern in der Kantine des Aachener Instituts hängen Zettel an der Wand. „Kein Dioxin im Mensa-Essen“, steht darauf. „Nach der Einholung von Erklärungen unserer Lieferanten können wir eine mögliche Verwendung von dioxinverseuchten Lebensmitteln in den gastronomischen Einrichtungen des Studentenwerks Aachen weitgehend ausschließen.“ Eingeholte Erklärungen, weitgehend. Alleleins Studenten sind weit davon entfernt, so etwas zu akzeptieren. Sie machen sich lustig darüber.

Wenn sie zu Branchentreffen der Atomindustrie fahren und sich dort zu erkennen geben, kehren sie mit Stapeln von Visitenkarten zurück. Und trotzdem: „Meiner Freundin habe ich bis heute nicht erklären können, wie Kerntechnik funktioniert.“

Dabei wollen sie verstanden werden. Sie haben eine Vortragsreihe an ihrem Institut, das „Kerntechnische Kolloquium“, jeden Dienstagabend findet es statt, und Universitätsfremde sind ausdrücklich dazu eingeladen. Doch es kommt kaum jemand. Auch nicht, wenn die Themen leicht verständlich sind wie an einem Abend kurz vor Weihnachten, als es um die „Europäische Stromversorgung 2050“ ging, um „Szenarien und Herausforderungen“. Drei Frauen und 30 Männer, die allermeisten Institutsangehörige, saßen in zwölf Klappstuhlreihen. Hinterher gab es Kartoffelsuppe und Bier, sie standen zusammen und redeten, wieder waren sie unter sich geblieben. Der am leichtesten verständliche Satz war, als einer sagte: „Die Philosophie der Kernenergie ist die Null-Fehler-Toleranz.“

Jetzt, nach der Erdbebenkatastrophe in Japan, die auch eine Atomstromkatastrophe ist, sagt Alexander Hundhausen, der im Tschernobyl-Jahr Geborene: „Ich finde, man sollte diese Diskussion sachlich führen.“ Sein Kommilitone Stephan Jühe, auch er saß damals mit in der Kneipe, sagt: „Es geht jetzt darum, die Pflicht zu tun.“

Jühe ist für ein paar Tage nach Berlin gekommen, um im Auslandsfernsehsender Deutsche Welle Expertenantworten auf Journalistenfragen zu geben. Man spürt ein wenig das Misstrauen, beide sind wortkarg, als würden sie fürchten, man wolle ihnen gegenüber einen Triumph auskosten. Sie sagen, sie hätten noch keine Zeit gefunden, darüber nachzudenken, was das alles nun für sie persönlich bedeutet.

Nur einer hat das offenbar schon getan. Er heißt Jan Wellding, und er sagt, dass keiner die Folgen von Japans Unglück auf die deutsche Kernkraft-Sicherheitsforschung kennt. „Es könnte sein, dass unsere Arbeit noch bedeutender wird“, sagt er. „Aber genauso gut könnte Montag auch Schluss sein.“

Er sagt aber vor allem, dass er es schändlich findet, dass hier schon über Konsequenzen für Deutschland nachgedacht werde, bevor klar sei, welches Ausmaß das Leid der Japaner hat.

Sie machen sich klein. Sie wollen nicht mehr ins Licht, und schon gar nicht in ein falsches. Sie wollen ihre Pflicht tun und ansonsten nicht wahrgenommen werden.

Es hätte vielleicht eine wichtige Geschichte werden können, über die Kerntechnik-Studenten von Aachen, bis vor einer Woche, als die Maßstäbe noch andere waren.

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