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Voll belegt. Blick in das Zimmer in einer Kommunalka, in dem „drei Personen und ein Hund“ leben. So hat es der Fotograf notiert, der das Bild im November 2009 in der zweitgrößten russischen Stadt St. Petersburg aufgenommen hat. Foto: Sergey Kozmin/Redux/laif

© Sergey Kozmin/Redux/Redux/laif

Wissen: Kerosin und Küchenzank

„Kommunalka“ als Lebensform: neue Forschungen zur Alltagsgeschichte der Sowjetunion

Jahrzehntelang wohnte die städtische Bevölkerung der Sowjetunion in Gemeinschaftsunterkünften. In der „Kommunalka“ – für kommunalnaja kvartira – lebten und leben heute noch mehrere Familien miteinander in jeweils einem einzigen Zimmer ehemals bürgerlicher Wohnungen, aber auch von Neubauten. In den Zeiten der schlimmsten Wohnungsnot waren oftmals sogar mehrere Familien in einem durch Bretterwände oder gar nur Laken abgeteilten Zimmer zusammengepfercht. Zunächst als Provisorium während des Bürgerkriegs nach 1918 aufgekommen, wurde die Kommunalka zur Dauereinrichtung. Die Zwangskollektivierung Ende der zwanziger Jahre und die forcierte Industrialisierung spülten Millionenheere landlos gewordener Bauern in die Städte, für die Wohnraum weder zur Verfügung stand noch in nennenswertem Umfang errichtet wurde, da alle verfügbaren Mittel in die Schwerindustrie flossen.

Die Bedeutung der staatlich verordneten Gemeinschaftswohnung für die Alltagsgeschichte der Sowjetunion liegt auf der Hand. „Die Kommunalka ist, wenn es so etwas gibt, die Geburtsstätte des Soviet way of life“, sie „enthält prismatisch die Lebensverhältnisse, wie sie für ganze Generationen über siebzig Jahre hinweg bestimmend waren“, schrieb Sowjet-Kenner Karl Schlögel vor 15 Jahren.

Mittlerweile kümmert sich die Forschung um das lange übersehene Thema. Nach wegweisenden Studien in den USA wie auch im heutigen Russland veröffentlichte jüngst die Tübinger Slawistin Sandra Evans ihre Dissertation zum Thema „Sowjetisch wohnen. Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka“, nachdem zwei Jahre zuvor Philipp Pott seine Forschungen zu „Moskauer Kommunalwohnungen 1917 bis 1997“ vorgestellt hatte. In der Kommunalka spielte sich wortwörtlich der Kampf ums Dasein ab. Sei es im beständigen Ellbogenkampf in der Gemeinschaftsküche, wo man vor Diebstählen alles andere als sicher ist, in Streitereien auf dem Flur oder im vergeblichen Kampf um ein Eckchen Privatleben oder gar Intimität. Die Kommunalka ist der Ort der Vergesellschaftung des Subjekts, der Einflussnahme von Partei und Staat, der Durchsetzung der Normen wie auch ihrer Übertretung. Doch der Partei blieb stets nur die vage Hoffnung auf die Schaffung des „neuen Menschen“.

Die Soziologie der Kommunalka lässt sich aus den vorhandenen Datensammlungen gewinnen, ihre Geschichte als Lebensform jedoch erschließt sich in der Literatur. Bei Pott sind es oral history und Memoiren, bei Evans die Belletristik. „Die Alltagsdramen der Kommunalka füllen die russische Literatur von Viktor Shklovskij bis Joseph Brodsky“, wusste schon Schlögel. Das gilt zumal für die Stalin-Zeit, aus der seriöse Fakten nur spärlich vorliegen. Die Angst vor den Schergen des NKWD während der Zeit des „Großen Terrors“ 1936 bis 1938 beschreibt der große Dichter Wassili Grossman in seinem Roman „Alles fließt“ über den „Morgen danach“ in einer Kommunalka: „Alles war still! Aber die Nachbarn schliefen nicht. Sie waren überglücklich, dass die Männer mit dem Haussuchungs- und dem Haftbefehl nicht zu ihnen gekommen waren.“

Beide Studien, von Philipp Pott wie von Sandra Evans, haben ihr großes Verdienst darin, mit der Fülle der sowjetischen Literatur, ob wissenschaftlich oder fiktional, vertraut zu machen. Zugleich verdeutlichen die in reicher Zahl ausgebreiteten Fundstellen, wie sehr Alltagserzählungen die Erfahrungen einer breiten Bevölkerung widerspiegeln, vor allem in den Millionen-Metropolen Moskau und Leningrad mit ihrem täglichen Kampf ums Dasein. So hat Daniil Charms, der 1942 in Haft verhungerte Dichter, die Unmöglichkeit der Vorschriften in der Kurzerzählung „Myschins Sieg“ auf die Spitze getrieben. Sie spielt in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, als der Wohnraum pro Kopf der Bevölkerung mit knapp über vier Quadratmetern seinen historischen Tiefpunkt erreichte. Myschin lebt in einer Kommunalka ohne zugewiesenen Wohnraum. Die Bewohner beschweren sich bei der Miliz: „Dieser Mann liegt hier fortwährend auf dem Fußboden, und wir können nicht durch den Korridor gehen.“ Der Milizionär antwortet hilflos: „Das ist unzulässig. Jeder hat in seinem Wohnraum zu liegen.“

Diese Nicht-Lösung des Konflikts ist außerordentlich bezeichnend, markiert sie doch den Freiraum, der sich zwischen Staatsmacht und Normalbürger auftut. Das nutzt eine der Figuren in Michail Bulgakows Stück „Sojas Wohnung“, indem sie auf Vorhaltungen der Staatsmacht ihrerseits droht: „Das Hauskomitee hat ein Auge, und auf dem Hauskomitee ruht noch ein Auge!“ Bulgakow und sein zur Weltliteratur zählender Roman „Der Meister und Margarita“, nach vieljähriger Arbeit 1940 fertiggestellt, werden von Evans häufig herangezogen, spielt doch die Handlung zu einem Gutteil in einer Wohnung am Moskauer Gartenring, für die Bulgakow eigene Kommunalka-Erfahrungen verwendete.

Die Spätphase der Herrschaft Stalins um 1950 ist von der Unabänderlichkeit der Zustände geprägt. Sandra Evans zitiert aus Boris Jampolskijs „Kommunalka. Ein Moskauer Roman“ von 1954, der im Mikrokosmos der Wohnung die allgegenwärtige Paranoia des Sowjetsystems dechiffriert. Der namenlose Icherzähler kreist um sein eines, einziges Zimmer in der Gemeinschaftswohnung: „In diesem Zimmer war ich mir schon immer wie in einer Falle vorgekommen, aus der es kein Entrinnen gab. Trotzdem verkroch ich mich nach den Versammlungen jedesmal wieder zwischen diesen verhassten, engen, fettigen Wänden, in dieses von Schaben und Wanzen wimmelnde, stickige Loch. Aber schließlich war es der einzige Winkel in der ganzen Stadt, vielleicht schon in der ganzen Welt, wo ich allein war, allein mit mir und meiner nagenden Schwermut, der Verwunderung über die Ungeheuerlichkeit und Sinnlosigkeit dessen, was man mit mir machte, allein mit meinem Schmerz.“

Die poststalinistische Sowjetzeit erlebt das allmähliche Verschwinden der Kommunalka, seit Parteichef Chruschtschow das Leben in einer Familienwohnung mit dem forcierten Bau von Wohnhäusern ab 1957 zum erreichbaren Ziel gemacht hatte. Gleichwohl lebten 1980 noch 30 Prozent der städtischen Sowjetbevölkerung in Kommunalkas, und Mitte der neunziger Jahre mussten 17 von 190 Millionen Stadtbewohnern mit weniger als fünf Quadratmetern Wohnfläche auskommen, wie Pott zusammengetragen hat. In Moskau als der bestversorgten Stadt des Landes hatte sich die Pro-Kopf-Wohnfläche am Ende der Sowjetunion gegenüber 1950 auf zwölf Quadratmeter immerhin verdreifacht. Nobelpreisträger Joseph Brodsky, 1940 in Leningrad geboren, rückt solche rein statistische Verbesserung allerdings zurecht, wenn er in seinen bereits im Exil geschriebenen „Erinnerungen“ anmerkt: „Etwa drei Generationen haben die Russen in Kommunalwohnungen und beengten Räumlichkeiten gelebt, und unsere Eltern liebten sich, während wir uns schlafend stellten.“

Wjatscheslaw Pekuch blickt in seinem Roman von 1989, „Die neue Moskauer Philosophie“, auf die Epoche der Kommunalka bereits zurück. „Es gibt keinen Zweifel, es waren bittere Lehrjahre, aber es ist etwas mehr von ihnen geblieben als Küchenzank und Kerosin in der Suppe, nämlich diese familiäre Geborgenheit, die man heute noch in unserem Volke finden kann.“ Solche Verklärung kann nicht das bleibende Fazit des Historikers sein, aber ein Zwischenergebnis der Forschung ist es allemal.

Sandra Evans: Sowjetisch wohnen. Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka. Transcript Verlag, Bielefeld 2011. 318 S., 32,80 €. – Philipp Pott: Moskauer Kommunalwohnungen 1917–1997. Basler Studien z. Kulturgeschichte Osteuropas. Pano Verlag, Zürich 2009. 312 S., 38 €.

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