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Gemeinsam stark. Kontakt zu Gleichaltrigen, gemeinsame soziale Aktivitäten – das macht laut einer neuen Studie für Heranwachsende Reichtum in der Kindheit aus.

© picture-alliance/ ZB

Kinderarmut: Arm und allein zu Hause

Neue Studien zeigen: Arm zu sein, ist mehr als Geldmangel. Kinder leiden weniger darunter, keine Markenklamotten tragen zu können. Schlimm ist es für sie, keine anderen Kinder nach Hause einladen zu können.

Wann ist ein Kind arm? Wenn es zu wenig zu essen hat, oder wenn es im Winter frierend auf der Straße Zündhölzer verkaufen muss wie das Mädchen im Märchen von Hans Christian Andersen? Auch hierzulande ist viel von Kinderarmut die Rede. Die Messgröße ist dabei ganz nüchtern das Einkommen. Wer 60 Prozent oder weniger von dem zur Verfügung hat, was der Durchschnitt der Bevölkerung nach Abzug aller Abgaben zum Leben hat, wird als armutsgefährdet angesehen. In Deutschland sind das, wie das Statistische Bundesamt gerade mitteilte, im Jahr 2009 gut 15 Prozent der Bevölkerung, darunter überdurchschnittlich viele Heranwachsende. Laut dem Deutschen Bildungsbericht 2010 befindet sich jeder dritte unter 18-Jährige in einer „sozialen, finanziellen oder kulturellen Risikolage“.

Ist ein Kind heute also arm, wenn es nicht die Markenturnschuhe haben kann, die seine Klassenkameraden tragen? Für den Survey „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (Aida) befragte das deutsche Jugendforschungsinstitut (DJI) in München auch die Heranwachsenden selbst. 25 000 Haushalte in 300 Gemeinden wurden einbezogen, in denen Menschen zwischen null und 55 Jahren leben. Basis für die Studie, die das Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben hat, war eine repräsentative Stichprobe aus Daten der Einwohnermeldeämter. In Telefoninterviews gaben Eltern und ältere Kinder Auskunft über verschiedene Lebensbereiche, Armut war dabei eines von mehreren Themen. Demnächst erscheinen die Ergebnisse in Buchform.

Vor allem was die befragten Kinder zwischen 9 und 12 Jahren zum Thema Armut zu sagen haben, ist ausgesprochen spannend. Aus ihrer Sicht ist ein Kind vor allem dann arm dran, wenn es keine oder nur wenige Freunde hat, keine anderen Kinder zu sich nach Hause einladen und nur selten an gemeinsamen Freizeitaktivitäten teilnehmen kann. Der Mangel, den die Kinder beschreiben, heißt Beziehungsarmut und Reizarmut. Soziales Leben, Kontakt zu Gleichaltrigen, Zeit und Raum für gemeinsame Unternehmungen, so könnte man im Umkehrschluss den Reichtum der Kindheit beschreiben.

Ein „armes Kind“ hat nach Ansicht der befragten 9- bis 12-Jährigen außerdem besonders viel Stress in der Schule und findet bei seinen Eltern dann keine Unterstützung. „Reicher“ ist es also, wenn es sich in seiner Bildungsinstitution wohl fühlt und Erfolg hat. „Die Kinder sind hier mit ihrer Einschätzung weiter als manche Kindheitsforscher“, sagt der Soziologe Christian Alt, der für diesen Bereich der Studie zuständig ist.

Mit Befragungen, in denen auch die Heranwachsenden selbst zu Wort kommen, haben Sozialwissenschaftler erst im 21. Jahrhundert begonnen. Alt ist sich sicher, dass es sich lohnt, schon weil der Blickwinkel der Kinder anders ist. „Natürlich würde ich als Erwachsener die Basis von Armut in einem Mangel an ökonomischen Ressourcen sehen. Kinder müssen das aber als gegeben hinnehmen, sie bemerken und beschreiben eher die Folgen dieses Mangels.“

Vorgegebene Beschreibungen wurden vor kurzem 2500 Sechs- bis Elfjährigen aus ganz Deutschland für die zweite World Vision Kinderstudie vorgelegt, für die der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann und die Kindheitsforscherin Sabine Andresen verantwortlich sind. Sie wurde inzwischen unter dem Titel „Kinder in Deutschland 2010“ veröffentlicht. 21 Prozent der Kinder stimmten hier der Aussage zu: „In unserer Familie ist das Geld eher knapp“, 70 Prozent meinten dagegen: „Wir haben genug Geld für alles, was wir brauchen“. Während solche Äußerungen zum guten Teil spiegeln dürften, wie die Eltern zu Hause über Geld sprechen, wirken Antworten auf die Frage nach Urlaub und Schwimmbadbesuchen „objektiver“. Neun Prozent der Kinder hätten unter solchen armutsbedingten materiellen Einschränkungen zu leiden, berichten die Autoren. Ältere Kinder stellen dabei auch die Verbindung zur Arbeitslosigkeit der Eltern her.

Welche Hilfen für die Familien die Forscher empfehlen, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Aid:a zeigt, dass Kinder von einkommensschwächeren und schlechter ausgebildeten Eltern seltener in Vereinen oder bei anderen Freizeitaktivitäten mitmachen, die etwas kosten. „An der ökonomischen Situation der Kinder ist nicht so leicht etwas zu ändern, aber wir müssen darauf dringen, dass die daraus entstehenden Ungleichheiten ausgeglichen werden“, fordert Alt. Statt der Bildungsgutscheine, die vorzuweisen Eltern und Kindern peinlich sein könnte, wünscht er sich etwa Bildungskarten für alle Familien, mit denen Freizeitangebote genutzt werden können – von den einen Eltern selbst bezahlt, bei anderen zum Beispiel vom Jobcenter übernommen. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen hat vor einigen Tagen Änderungen des Bildungspakets angekündigt, die es schneller und diskreter nutzbar machen sollen.

Ihre Befragung zeige, dass Einkommensarmut per se nicht zu Verhaltens- und Schulproblemen der Kinder, einem schlechteren Familienklima oder Mangel an Freunden führe, berichten die Aid:a-Mitarbeiterinnen Sabine Walper und Birgit Riedel in der DJI-Zeitschrift „Impulse“ . „Das könnte auch daran liegen, dass Eltern normalerweise alles versuchen, um materielle Schwierigkeiten von ihren Kindern fernzuhalten.“ Weit mehr Auswirkungen habe es auf jeden Fall, wenn den erwachsenen Familienmitgliedern Bildung und eine gute Ausbildung fehle. Dann sind sie nämlich eher von Langzeitarbeitslosigkeit bedroht und können den Kindern mit geringerer Wahrscheinlichkeit einen stimulierenden Rahmen für ihre Entwicklung bieten.

In den Augen der Kinder spielt zudem das Familienklima eine ganz gewichtige Rolle. Kinder, die von einem weitgehend harmonischen Familienleben berichten, erzählen nämlich zugleich, dass sie sich öfter mit Freunden treffen. Diese Art des Reichtums kommt übrigens, wenn man den befragten Heranwachsenden glauben darf, bei Kindern mit „Migrationshintergrund“ öfter vor: Sie haben einen besonders großen Freundeskreis.

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